«Künstliche Intelligenz kann das Wirtschaftswachstum auf beispiellose Weise ankurbeln – und damit Umweltkrisen verschärfen.»
Carte blanche für Marion Meyers und Irmi Seidl
15.05.24 – Künstliche Intelligenz wird vielfach als grosse Chance im Kampf gegen den Klimawandel und andere Umweltprobleme gepriesen. KI könnte jedoch zerstörerische Auswirkungen auf die Umwelt haben, auch als Resultat des verstärkten Wirtschaftswachstums. Diese Widersprüche gilt es jetzt anzugehen, um negative Lock-in-Effekte bei Infrastrukturen zu vermeiden.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorinnen wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde. Während einzelne Organisationen begonnen haben, bestimmte KI-Entwicklungen aus ethischer Sicht zu hinterfragen, sind die meisten nach wie vor zuversichtlich, dass die Technologie grosses Potenzial für die Bewältigung der zentralen Fragen unserer Zeit hat, einschliesslich der Umweltprobleme. So gelten verschiedene KI-Anwendungen als vielversprechend für die Bekämpfung des Klimawandels, etwa Anwendungen des maschinellen Lernens (ML) zur Verbesserung der Energieeffizienz von Gebäuden oder Systeme zur Vorhersage von Stromangebot und -nachfrage. Betrachtet man jedoch die tatsächlichen und potenziellen Auswirkungen von KI auf die Umwelt, ergibt sich ein weniger rosiges Bild. KI hat nicht nur erhebliche direkte Auswirkungen auf die Umwelt, sondern könnte auch eine wichtige Rolle für ein beschleunigtes, anhaltendes Wirtschaftswachstum spielen und damit die Wurzel der Umweltkrisen stärken.
Künstliche Intelligenz nutzt die gleiche Hardware und Infrastruktur wie andere digitale Technologien (Computer, Server usw.). Das bedeutet, dass sie die gleichen umweltbelastenden Folgen hat wie z. B. durch den Abbau seltener Erden, energieintensive Produktionsprozesse sowie extrem viel Elektronikschrott. Doch künstliche Intelligenz verursacht auch selbst Umweltkosten: ML-Modelle basieren auf dem Lernen aus Daten, manchmal aus sehr grossen Datenmengen. Dies führt zu langen Rechenzeiten und grossem Speicherbedarf, was sehr energieintensiv ist. Auch werden Rechenzentren auf- und ausgebaut, die viel Wasser und Flächen verbrauchen.
Es gibt keine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und dem Druck auf die Umwelt
Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Künstliche Intelligenz kann auch durch die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums umweltschädigend wirken. Wachstum war und ist eine der Hauptursachen von Umweltproblemen, da es bisher keine Aussicht auf eine ausreichende absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung gibt. Während Technologie schon immer ein wichtiger Motor des Wirtschaftswachstums war, könnte KI das Wirtschaftswachstum auf einzigartige Weise und stärker als andere Technologien beschleunigen. Ein erster Mechanismus, der diese Entwicklung begünstigen könnte, ist die beschleunigte Generierung von Ideen und neuem Wissen. Das Modeunternehmen Shein beispielsweise nutzt KI, um soziale Medien in Echtzeit zu überwachen, Modetrends zu erkennen und Designvorschläge für neue Kleidungsstücke zu generieren. Durch den Einsatz von KI zur Beschleunigung des Designprozesses kann Shein mehr als tausend neue Artikel pro Tag auf seiner Webseite veröffentlichen und hat seinen Umsatz zwischen 2019 und 2020 um 250 % gesteigert (1). Ein weiterer Mechanismus ist die Fähigkeit der KI, selbst zu lernen. Einige maschinelle Lernmodelle sind so programmiert, dass sie ständig dazulernen und immer genauer werden, je mehr Daten sie erhalten. Dies bedeutet, dass maschinelles Lernen im Gegensatz zu anderen Arten von Kapital, das sich mit der Zeit abnutzt, in der Lage ist, seinen Beitrag zur Produktivität ständig zu steigern und somit das Wirtschaftswachstum kontinuierlich und in zunehmendem Masse zu fördern.
Das wachstumsfördernde Potenzial der KI wird von grossen Beratungsunternehmen und Regierungen nachdrücklich betont und ihre Annahmen veranlassen sie und andere zu erheblichen Investitionen in diese Technologie. PricewaterhouseCoopers (PwC), eine der führenden internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, schätzt beispielsweise, dass der Einsatz von KI das globale BIP bis 2050 um 14 % steigern wird (2), und die Europäische Union beschreibt KI in zahlreichen ihrer Mitteilungen als starken Produktivitätsfaktor.
Umweltschädliche Sachzwänge vermeiden
Im Diskurs über KI gibt es einen offensichtlichen Widerspruch: Auf der einen Seite wird KI als nützliche Technologie zur Eindämmung des Klimawandels und anderer Umweltprobleme dargestellt, auf der anderen Seite wirkt sie zerstörerisch auf die Umwelt – auch durch die Steigerung des Wirtschaftswachstums. Wenn wir diesen Widerspruch nicht sehr bald auflösen, könnten die heutigen Investitionen in KI zu einer Reihe von umweltschädlichen und wachstumsfördernden Infrastrukturzwängen führen (3). Dies könnte eine nachhaltige Gesellschaft, die wir dringend benötigen, noch weiter in die Ferne rücken.
Hinweis: Dieser Artikel basiert auf der Forschungsarbeit von Marion Meyers «A Degrowth Perspective on Artificial Intelligence – Analyzing the Appropriateness of Machine Learning to a Degrowth Context» und ihrem Paper «Artificial Intelligence in a degrowth context. A conviviality perspective on machine learning» GAIA 33/1 (2024): 186 – 192.
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Marion Meyers hat einen Master in Wissenschaft, Technologie und Politik der ETH Zürich. Irmi Seidl ist Ökonomin und Leiterin der Forschungseinheit «Wirtschafts- und Sozialwissenschaften» an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
Quellenangaben:
- Bloomberg News (14. Juni 2021). How Trump’s Trade War Built Shein, China’s First Global Fashion Giant.
- Anand, R.; Gerard, V.; Euan, C. (2017). Sizing the Prize – What’s the real value of AI for your business and how can you capitalise? PwC Report
- Robbins, S.; van Wynsberghe, A. (2022). Our New Artificial Intelligence Infrastructure: Becoming Locked into an Unsustainable Future. Sustainability 2022, 14, 4829.
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