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Protonentherapie

Neue Wege in der Krebsbehandlung

In der Schweiz studieren vergleichsweise wenig junge Frauen Physik. Anders in Italien, wo das Physikstudium für Frauen eine Selbstverständlichkeit darstellt. Kein Zufall daher, dass es mit Fabiola Gianotti eine italienische Physikerin war, die im Juli 2012 im Namen des ATLAS-Experiments am CERN die Entdeckung des Higgs-Teilchens bekanntgab. Auch Martina Bucciantonio ist italienische Physikerin, und auch sie arbeitet am CERN. Während sich die Nachwuchswissenschaftlerin zu Beginn ihrer Forscherkarriere vor allem mit grundlegenden Fragestellungen unter anderem in der Datenauswertung befasste, beschäftigt sie sich in der Doktorarbeit aktuell mit Fragen medizinischer Anwendungen. Am 4. April diskutiert Martina Bucciantonio an der Kantonsschule Locarno mit dem bekannten Krebsarzt Franco Cavalli zum Thema: „Lebendige Materie oder tote Materie – Forschen in der Medizin, Forschen in der Physik“ (geschlossene Veranstaltung). Bereits am 20. März findet um 16 Uhr ein Google-Hangout zum selben Thema statt.

Die Forscherin Martina Bucciantonio.
Bild: B. Vogel

Über 40 Zentren für Hadronentherapie existieren weltweit, also medizinische Behandlungseinrichtungen, die Protonen und Ionen zur Bekämpfung von Krebstumoren einsetzen. Eines der traditionsreichsten dieser Institute ist am Paul Scherrer Institut in Villigen im Kanton Aargau beheimatet. Dort wird seit 1984 ein Strahl aus Protonen im Rahmen der Protonentherapie zur Behandlung u. a. von Augentumoren eingesetzt. Mehrere Tausend Krebspatientinnen und -patienten sind dort schon behandelt worden. Weitere Zentren der Hadronentherapie befinden sich in Boston (USA), Heidelberg (D) oder in Pavia (I).

Villigen, Boston, Heidelberg, Pavia – das sind die Orte, an denen sich Martina Bucciantonio ihre berufliche Zukunft vorstellen kann. Zur Zeit arbeitet die in Pistoia bei Florenz geborene Physikerin noch am CERN an ihrer Doktorarbeit. Doch im Herbst dieses Jahres wird sie die Arbeit abschliessen, und dann möchte Sie ihre Forschungstätigkeit im Bereich der Hadronentherapie fortsetzen, und dies am liebsten an einem Ort, wo diese Behandlungsmethode bereits zu medizinischen Zwecken eingesetzt wird, wo also die Erkenntnisse aus der Teilchenphysik genutzt werden, um Krebspatientinnen und -patienten zu behandeln und zu heilen. „An diesen Instituten ist man eng in die Anwendung der Therapiegeräte eingebunden, man erhält ein reges Feedback auf die eigene Arbeit und man kann sogar bei der Entwicklung von Behandlungsplänen mitwirken“, skizzziert die 35-jährige Teilchenphysikerin das Wunschbild ihrer künftigen beruflichen Tätigkeit.

Studieren in Pisa, forschen in den USA

„Ich habe mich für das Physikstudium entschieden, weil ich die Natur der Dinge schon immer in ihrer Tiefe verstehen wollte.“ Mit diesen Worten begründet Martina Bucciantonio ihre Studienwahl. Für das Studium begab sie sich dann zunächst an die Universität Pisa, studierte dort Physik. Schnell galt ihr besonderes Interesse der Hochenergiephysik. Im Sommer 2002 führte ein Praktikum die damals 23jährige Studentin ans Fermilab, das renommierte Teilchenphysik-Forschungsinstitut in der Nähe von Chicago (USA). In den folgenden acht Jahren machte Bucciantonio in Pisa ihren Bachelor und ihren Master. Während dieser Zeit war sie wiederholt am Fermilab, arbeitete insbesondere am Collider Detector at Fermilab (CDF), einem Experiment, an dem bis 2011 mehrere Hundert Physikerinnen und Physiker aus der ganzen Welt tätig waren. CDF war ein Detektor am Teilchenbeschleuniger Tevatron, in dem Protonen mit Antiprotonen zur Kollision gebracht wurden. Mit dem CDF-Experiment wurden die Grundlagen der Materie untersucht. Im Jahr 1995 war dort das Top-Quark, das schwerste heute bekannte Elementarteilchen, experimentell nachgewiesen worden.

Nach der Entdeckung des Top-Quark verwendeten die Physiker am Fermilab viel Fleiss darauf, die Masse des Top-Quark exakt zu bestimmen. In diesem Zusammenhang schrieb Martina Bucciantonio ihre Bachelor-Arbeit im Bereich der Datenauswertung, die im Zuge dieser Messungen nötig war. Auch die Master-Arbeit, die die Physikerin 2010 an der Universität von Pisa abschloss, stand im Zusammenhang mit dem CDF-Experiment. Wiederum ging es um die Auswertung experimenteller Daten, aber auch um die Informatik, die dafür nötig war. Ihre wissenschaftliche Arbeit leistete einen Beitrag zu einem Hardware-Upgrade, das im März 2010 am CDF-Experiment durchgeführt wurde. Dieses Upgrade hatte das Ziel, die Bahnen geladener Teilchen ohne Zeitverzug (real-time) verfolgen zu können.

Doktorandin an der Universität Bern

Nach der Verteidigung ihrer Masterarbeit wechselte Bucciantonio für einige Zeit ans Fermilab. „Dort kommte ich an einem Experiment der Hochenergie-Physik auf dem höchsten Level arbeiten, und ich bewegte mich in einem sehr herausfordernden und kompetitiven Umfeld“, blickt Bucciantonio auf die Zeit am Fermilab zurück. Zu ihren Tätigkeiten gehörte auch die Teilnahme an internationalen Konferenzen, wo sie und andere Forscher neuste Forschungsresultate austauschten. Die Forscher des CDF-Experiments pflegen eine intensive Zusammenarbeit innerhalb des Experiments und darüber hinaus, wie Bucciantonio betont: „Das ist meiner Meinung nach bei der Erforschung neuer Technologien der Schlüssel zum Erfolg.“

Heute ist Martina Bucciantonio Doktorandin an der Universität Bern. Das dort beheimatete Albert Einstein Center für fundamentale Physik hat sich als Kompetenzzentrum im Bereich Medizinphysik etabliert und bietet eine einmalige Gelegenheit für angewandte Forschung in einem akademischen Umfeld. Ein Zyklotron stellt hier seit 2013 Radioisotopen für die PET-Diagnose am Berner Inselspital her. Dieses Umfeld hat Martina Bucciantonio dazu bewogen, in Bern ihre Doktorarbeit zu verfassen. Als Forscherin arbeitet sie allerdings hauptsächlich am CERN, dem Europäischen Labor für Teilchenphysik in Meyrin bei Genf. „Zwar arbeite ich auch am Schreibtisch, doch rund 60 Prozent meiner Arbeitszeit verbringe ich im Labor“, sagt die Nachwuchswissenschaftlerin. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt heute bei den medizinischen Anwendungen der Teilchenphysik. Finanziert wird ihre Forschungstätigkeit durch ein Stipendium der italienischen TERA-Stiftung, die sich der Entwicklung neuer Technologien im Bereich der Strahlentherapie verschrieben hat. Die Strahlentherapie macht sich seit langem Gammastrahlung, Röntgenstrahlung und Elektronenstrahlung für medizinische Zwecke zunutze. Die TERA-Stiftung fördert dagegen insbesondere die Form der Strahlentherapie, die auf Hadronen basiert. In diesem Zusammenhang sind mit Hadronen insbesondere Protonen und Ionen (z.B. Kohlenstoffionen) gemeint. Protonen und Ionen werden heute von Ärzten eingesetzt, um Krebstumoren zu vernichten.

Strahlentherapie für Krebspatienten

Krebs ist nicht nur ein weit verbreitetes Leiden, die Krankheit hat auch viele Ausprägungen. Entsprechend vielfältig sind die Behandlungswege. Ärzten stehen bei der Behandlung von Krebs heute grundsätzlich drei Methoden offen (wobei bei vielen Krebspatienten eine Kombination dieser drei Methoden zur Anwendung kommen): erstens die chirurgische Entfernung des Krebsgeschwürs, zweitens die Bekämpfung der Tumoren mit pharmakologischen Wirkstoffen (Chemotherapie), und drittens die Zersetzung des Tumors mit Strahlung hoher Energie (Strahlentherapie). Für die Strahlentherapie werden ionisierende Strahlen (Röntgenstrahlen, Gammastrahlen oder Elektronen) eingesetzt, die die Fähigkeit haben, Tumorzellen zu zerstören. Physikalisch gesehen erfolgt die Tumorbekämpfung bei der Röntgen- und Gammastrahlung über Photonen (Lichtteilchen mit hoher Energie).

Die allermeisten Bestrahlungen von Krebspatienten, die heute durchgeführt werden, erfolgen mit Photonen. Nur in speziellen Fällen werden für die Bestrahlung nicht Photonen verwendet, sondern Protonen oder Ionen (zusammengefasst unter dem Begriff Hadronen). Die entsprechenden medizinischen Behandlungsmethoden heissen 'Protonentherapie' und 'Ionentherapie' (der Oberbegriff lautet: 'Hadronentherapie'). Die Protonentherapie ist stärker verbreitet als die Ionentherapie. Bei der Protonentherapie kommt der Schweiz eine Pionierrolle zu: Erstmals in Westeuropa kam diese Therapieform 1984 am Paul Scherrer Institut in Villigen (Kanton Aargau) zum Einsatz. Die Protonentherapie hat gegenüber der Bestrahlung mit Photonen zwei entscheidende Vorteile: die Protonen zerstören das Krebsgewebe erstens insbesondere in der Tiefe (im Gegensatz zu Röntgen- und Gammastrahlung, die das Gewebe hauptsächlich an der Oberfläche zerstören). Zweitens kann man bei Protonen (und Ionen) die Schädigungstiefe steuern. Die Protonentherapie hält aber auch spezielle Herausforderungen parat: So müssen Ärzte besonders gut darauf achten, dass sie bei der Bestrahlung von Krebspatienten kein gesundes Gewebe schädigen. Und die Behandlung mit Protonen ist aufwändiger - und damit teuer.

Diagnose und Therapie

Der medizinische Fachbereich, der sich um die diagnostische Bestrahlung von Patienten kümmert, heisst 'Radiologie'. Dabei ist zu beachten, dass Strahlung nicht nur für die eigentliche Behandlung von Krebspatienten (Therapie) eingesetzt wird. Ebenso wichtig ist der Einsatz der Strahlung zur Bildgebung (Diagnose), also um 'in den Körper hineinzusehen'. Mit bildgebenden Verfahren wird unter anderem bestimmt, wo sich Krebsgeschwüre und deren Ableger (Metastasen) im Körper befinden. Für die Suche nach Krebstumoren im Körper der Patienten werden von der heutigen Medizin hauptsächlich drei Verfahren eingesetzt: Röntgenstrahlung/Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Diese diagnostischen Verfahren schaffen die Voraussetzung, dass Ärzte die Tumoren nachher gezielt behandeln können.

Die bildgebenden Verfahren sind in der Krebsbehandlung wichtig, unabhängig davon, ob die Krebsgeschwüre anschliessend mit Photonen oder mit Protonen (oder Ionen) behandelt werden. Bei der Protonentherapie (und der Hadronentherapie insgesamt) ist die Ortsbestimmung des Tumors aber besonders wichtig. Denn diese Technologie erlaubt - anders als die Behandlung mit Röntgen- und Gammastrahlung - eine sehr präzise Zerstörung des Tumors, bei den das umliegende, gesunde Gewebe praktisch nicht geschädigt wird. Hier liegt das Hauptinteresse von Martina Bucciantonios Doktorarbeit. Sie befasst sich insbesondere mit einer neuartigen Methode, mit der es Ärzten in Zukunft gelingen soll, die Behandlung mit Protonen noch genauer als heute durchzuführen. Diese neuartige Methode ist die sogenannte 'Protonen-Reichweiten-Radiographie' (engl. Proton Range Radiography). Es handelt sich dabei um ein Verfahren, bei dem sich mit Protonen messen lässt, wo genau sich der Tumor im Körper befindet. Damit kann die sich anschliessende Protonentherapie exakt berechnet werden: Die Reichweite der Protonen wird so gesteuert, dass sie genau auf den Tumor treffen.

Qualitätssicherung für Protonentherapie

Im Rahmen ihrer Doktorarbeit hat Bucciantonio einen Prototypen für die Protonen-Reichweiten-Radiographie entwickelt und dieses Gerät auch im Labor (aber noch nicht an Patienten) getestet. „Diese Methode könnte in Zukunft für die Qualitätssicherung der Protonentherapie genutzt werden; sie dürfte in wenigen Jahren für die medizinische Anwendung zur Verfügung stehen“, sagt Bucciantonio. „Die Protonen-Reichweiten-Radiographie dürfte eine interessante Alternative darstellen zu den Verfahren, die heute benutzt werden, um die Lage des Patienten und des Tumors während der Behandlung zu kontrollieren. Das neue Verfahren hat eine bessere Auflösung und geht mit einer tieferen Strahlenbelastung einher.“

Ein zweiter Arbeitsschwerpunkt von Martina Bucciantonio betrifft die Positronen-Emissions-Tomographie (PET), die heute bereits in vielen Spitälern genutzt wird, um Krebsgeschwüre im Körper zu lokalisieren. Das Ziel von Bucciantonios Forschung besteht darin, die PET-Methode so weiterzuentwickeln, dass sie für einen neuen Zweck – nämlich zur Qualitätssicherung der Protonentherapie – genutzt werden kann. Gelingt dies, würde die Behandlung eines Krebspatienten per Protonenbestrahlung in Zukunft dann so aussehen: In dem Moment, wo Ärzte den Tumor mit Protonen bestrahlen, wird zugleich eine PET durchgeführt, die ohne Zeitverzögerung überprüft, ob die Protonen ihr Ziel erreichen und den Tumor wirksam und ohne Nebenwirkungen zerstören. Die Protonentherapie würde durch dieses zusätzliche PET-Verfahren zwar aufwändiger, aber auch zuverlässiger. Martina Bucciantonio hätte dann erstmals auch Gelegenheit, etwas zu tun, was sie im Verlauf ihrer bisherigen Forscherkarriere noch nie getan hat: ihre Arbeit in direktem Kontakt mit Krebspatientinnen und -patienten auszuüben.

Benedikt Vogel (veröffentlicht 13. 3. 2014)

  • Am Collider xxx (USA) hat Martina Bucciantonio im Rahmen ihrer xxx geforscht.
  • Martina Bucciantonio
  • Das Paul Scherrer Institut in Villigen (AG) gehört zu den Pionieren der Protonentherapie.
  • Am Collider xxx (USA) hat Martina Bucciantonio im Rahmen ihrer xxx geforscht.Bild: Fermilab1/3
  • Martina Bucciantonio2/3
  • Das Paul Scherrer Institut in Villigen (AG) gehört zu den Pionieren der Protonentherapie.Bild: PSI3/3

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