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Bei der Neutrino-Forschung in der ersten Reihe

Über 30 Nobelpreis-Träger werden in diesem Jahr in Lindau/D mit rund 400 Nachwuchswissenschaftlern aus annähernd 80 Ländern diskutieren. Die 66. Tagung der Nobelpreis-Träger in Lindau (26. Juni bis 1. Juli) ist der physikalischen Forschung gewidmet. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Teilchenphysik einschliesslich der Neutrinophysik. Prof. André Rubbia (ETH Zürich) ist einer der führenden Neutrino-Experten in der Schweiz. Im Interview wirft der 50jährige Forscher einen Blick auf die wichtigsten Themen in der aktuellen weltweiten Neutrino-Forschung – und er beschreibt den Beitrag der Schweizer Teilchenphysiker.

Prof. Dr. André Rubbia, ETH Zürich

Prof. Rubbia, Hauptredner an der Tagung der Nobelpreis-Träger in Lindau sind der japanische Forscher Takaaki Kajita und der kanadische Astrophysiker Arthur McDonald, welche gemeinsam den Physik-Nobelpreis 2015 gewonnen haben. Die Wissenschaftler erhielten den Nobelpreis für ihre Erkenntnisse rund um die Verwandlung von Neutrinos und deren Masse. Was haben die beiden genau entdeckt?

Wir kennen drei Zustände (engl. 'flavors') von Neutrinos: das Elektron-Neutrino, das Myon-Neutrino und das Tau-Neutrino. Takaaki Kajita und Arthur McDonald haben in verschiedenen Experimenten ein neues Phänomen entdeckt, das wir Neutrino-Oszillation nennen. Gemeint ist damit, dass der Zustand eines Neutrinos sich verändern ('oszillieren') kann, während es sich von seiner Quelle durch den Raum zum Detektor bewegt. Kajita hat in Japan mit einem sehr grossen Neutrino-Detektor – dem Super-Kamiokande Detektor – Myon-Neutrinos untersucht. Als er und sein Team die im Detektor eintreffenden Myon-Neutrinos massen, realisierten sie, dass dort weniger Myon-Neutrinos eintrafen als erwartet. Was geschehen war: Die Myon-Neutrinos hatten sich in Tau-Neutrinos verwandelt, als sie sich durch die Erde ausgebreitet haben. Arthur McDonald hat mit dem unterirdischen Neutrino-Observatorium in Sudbury (SNO) in Kanada ein ähnliches Experiment durchgeführt. Mit dem SNO Detektor hat er die von der Sonne freigesetzten Neutrinos untersucht, vorwiegend Elektron-Neutrinos. McDonald und sein Team stellten während des Experiments fest, dass die Elektron-Neutrinos sich auf dem Weg von der Sonne zur Erde in andere Zustände verwandelt hatten.

Die Neutrino-Oszillation ist eine Eigenschaft der Elementarteilchen (Quarks und Leptonen), die wir einzig von den Neutrinos kennen?

Genau! Dieses Phänomen wurde mit Elementarteilchen vorher niemals direkt beobachtet. Als Folge dieser Oszillationen wissen wir nun, dass Neutrinos eine (sehr kleine) Masse besitzen. Das ist eine spektakuläre Entdeckung, denn im Standard Modell waren die Neutrinos bisher masselos.

Das Neutrino war erstmals 1930 von Wolfgang Pauli postuliert worden, der damals als theoretischer Physiker an der ETH Zürich arbeitete. Die drei Zustände des Neutrinos wurden dann in den Jahren 1956 (Elektron-Neutrino), 1962 (Myon-Neutrino) und im Jahr 2000 (Tau-Neutrino) experimentell bestätigt. 'Mission completed', denkt der physikalische Laie. Aber unterdessen ist das Neutrino wieder ein 'hot topic' der Teilchenphysik. Warum?

Die Entdeckung der Neutrino-Masse durch Kajita und McDonald hat die Neutrino-Forschung neu beflügelt. Aus folgendem Grund: Ein Teilchen wie das Elektron hat einen Spin. Es „rotiert“ um sich selber, entweder links- oder rechtsdrehend. Bis in den späten 1990er Jahren dachten wir, das Neutrino habe nur eine Art von Spin (linksdrehend). Das war konsistent mit der Annahme, dass das Neutrino masselos sei. Wenn das Neutrino nun eine Masse hat, bedeutet das, dass auch so etwas wie ein rechtsdrehendes Neutrino existieren könnte. Dieses Neutrino wäre ein sehr spezielles Neutrino, denn gemäss dem Standardmodell hätte dieses rechtsdrehende Neutrino keine Interaktion mit der bekannten Materie – es wäre völlig unsichtbar. Aus diesem Grund nennen wir es 'steriles Neutrino'.

Eine ziemlich seltsame Vorstellung!

Tatsächlich, aber die Auswirkungen auf die Kosmologie könnten beträchtlich sein. Denn dieser Typ von Neutrino könnte in der frühen Phase während des Urknalls im Universum entstanden sein. So ist es eine der grossen aktuellen Fragen der Teilchenphysik, ob das sterile Neutrino existiert und was für eine Wirkung es auf das Universum gehabt hat. Die Entdeckung dieses vierten Neutrinos würde ein Fenster zu neuen Teilchen aufstossen, von deren Existenz wir bisher keine Ahnung haben.

Besteht eine Chance, dieses Teilchen in den nächsten Jahren zu finden?

Ja, durchaus. Gegenwärtig entstehen verschiedene Arten von Experimenten, welche die Existenz steriler Neutrinos nachweisen könnten.

Wenn das Neutrino oszilliert, dann muss sein Antimaterie-Partner – das Anti-Neutrino – auch oszillieren?

Genau das wollen wir in sogenannten Long-Baseline-Experimenten wie DUNE (Deep Underground Neutrino Experiment) zeigen, das wir gegenwärtig am Fermilab in der Nähe von Chicago aufbauen. Darüber hinaus wollen wir untersuchen, ob die Neutrino-Oszillation bei Neutrinos und Anti-Neutrinos gleich ist. Indem wir dies untersuchen, wollen wir die Frage beantworten, warum während des Urknalls mehr Materie als Antimaterie entstanden ist. Dieser Überschuss an Materie ist schliesslich die Grundlage für alle Galaxien in unserem Universum, für alle Sterne und Planeten einschliesslich der Erde und uns selbst.

Welchen Beitrag leistet die Schweizer Teilchenphysik zur weltweiten Neutrino-Forschung?

Heute sind die Universität Genf (Prof. Alain Blondel), die Universität Bern (Prof. Antonio Ereditato) und die ETH Zürich (ich selber) an wichtigen Neutrino-Experimenten beteiligt. Eines davon ist das T2K- (steht für: Tokai nach Kamioka) Experiment in Japan. Dieses Experiment schickt einen Neutrino-Strahl von der Ostküste (Tokai) zur Westküste (Kamioka) Japans. Dort untersuchen wir die Neutrino-Oszillationen und die Unterschiede zwischen Oszillationen von Neutrinos und Anti-Neutrinos. Schweizer Forscher haben zu diesem Experiment 2006 bis 2011 mit dem Bau des sogenannten Near-Detektors beigetragen. Heute sind wir insbesondere an der physikalischen Auswertung beteiligt, also am Sammeln der Daten und der Analyse der Neutrino-Interaktionen.

Sie haben dieses Experiment in der letzten Woche besucht. Die Woche davor hatten Sie in den USA verbracht.

Ja, am Fermilab in der Nähe von Chicago. Ich bin einer der beiden Sprecher des oben erwähnten DUNE-Experiments, neben Mark Thomson von der Universität Cambridge. Das ist tatsächlich das erste Mal, dass die USA ein sehr grosses Neutrino-Experiment beherbergen, das erst noch durch zwei Europäer geleitet wird! Wir bauen dieses Experiment auf der Grundlage des CERN-Modells auf, also mit der Beteiligung verschiedener Länder. Das ist eine Herausforderung, denn die USA waren bis anhin solche internationale Einbindung nicht gewohnt.

Und die Schweiz sitzt erst noch in der ersten Reihe.

Ein weiterer Beitrag der Schweizer Teilchenphysiker ist die Entwicklung einer Detektor-Technologie mit dem Namen Liquid Argon Time Projection Chamber. DUNE wird das erste wirklich grosse Projekt sein, welches diesen Detektor einsetzen wird, um Neutrinos nachzuweisen.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal auf die Tagung der Nobelpreis-Träger in Lindau zurückkommen. Einer der Nobelpreis-Träger, der am Treffen teilnehmen wird, ist Carlo Rubbia, Ihr Vater. Carlo Rubbia bekam den Nobelpreis 1984 für die Entdeckung des W- und des Z-Bosons am CERN. Was macht den Unterschied zwischen einem Spitzenforscher wie Ihnen und einem Nobelpreis-Träger wie Ihrem Vater aus? Ist es mehr als ein Quäntchen Glück?

Das ist eine sehr gute Frage. Der Nobelpreis für Carlo Rubbia zusammen mit Simon Van der Meer war sehr verdient, ebenso der Nobelpreis für Takaaki Kajita und Arthur McDonald. Was die Zukunft angeht – da wird man sehen müssen. (Er lacht.) Wir wollen nicht voreilig sein, aber ich denke, die Entdeckung eines sterilen Neutrinos oder einer Materie-Antimaterie-Asymmetrie der Neutrino-Oszillation hätte das Niveau, das einen Nobelpreis rechtfertigen würde. Aber dies ist nicht meine hauptsächliche Motivation. Meine Hauptmotivation ist die Wissenschaft.

Interview: Dr. Benedikt Vogel

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