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Öffnet sich das Fenster zu einer neuen Physik?

Mit dem grossen CERN-Teilchenbeschleuniger wurde 2012 das Higgs-Teilchen nachgewiesen. Nun gibt es Hinweise, dass die CERN-Physiker mit dem weltweit einmaligen Forschungsgerät abermals ein neues Elementarteilchen entdecken könnten. Die Spannung steigt.

Das Foto zeigt eine Proton-Proton-Kollision, die der CMS-Detektor des CERN-Teilchenbeschleunigers im September 2015 aufgezeichnet hat. Aus der Kollision sind unter anderem zwei Photonen mit einer Energie von insgesamt 700 bis 800 GeV (veranschaulicht durch die zwei grünen Linien) hervorgegangen.
Bild: Thomas Mc Cauley / CERN

Im August 2016 werden Teilchenphysiker aus allen Teilen der Welt in Chicago zu einer grossen Konferenz zusammenkommen: der ICHEP 2016. Konferenzen dieser Art sind der Ort, wo Physiker sich austauschen, neue Resultate diskutieren und, falls solche vorliegen, neue Entdeckungen bekannt geben. Tatsächlich könnte in Chicago eine aufregende Neuigkeit aus der Welt der Elementarteilchen zu vermelden sein. „Neues schweres Elementarteilchen entdeckt!“, könnte die populärwissenschaftliche Schlagzeile zum Beispiel lauten. Doch vor übereilten Sensationsmeldungen sei gewarnt: Es ist auch gut möglich, dass in Chicago die Überraschung ausbleibt. Und dass die Konferenz am Ende von der Weltöffentlichkeit unbeachtet zu Ende geht.

Hoffnung auf „neue Physik“

Teilchenphysiker sehen der Konferenz in Chicago mit Spannung entgegen. Das hat gute Gründe. Im letzten Dezember haben Experimentalphysiker des Europäischen Labors für Teilchenphysik (CERN) in Genf nämlich erstmals von einer bemerkenswerten Beobachtung berichtet, und dann abermals im März an der Moriond-Konferenz nach einer weiteren Überprüfung der Daten. Sie fanden bei der Auswertung von Messergebnissen des Teilchenbeschleunigers LHC einen möglichen Hinweis auf die Existenz eines neuen Elementarteilchens. Seither jagen sich die Spekulationen. Rund um den Globus wird gerätselt, ob das neue Teilchen tatsächlich existiert. Und falls ja, was dies zu bedeuten hätte. Denn alle Elementarteilchen, die gemäss der heute geltenden Theorie der Teilchenphysik – dem sogenannten Standardmodell – existieren, sind bereits gefunden worden. Sollte jetzt noch ein weiteres Teilchen existieren, müssten die Physiker grundlegend über die Bücher.

„Wenn wir tatsächlich ein neues Teilchen finden sollten, wäre das neue Physik“, sagt PD Dr. Hans Peter Beck, Teilchenphysiker der Universität Bern, der die Experimente am CERN aus nächster Nähe begleitet. Das ist denn auch der grosse Unterschied zur Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012: Der Higgs-Mechanismus und das zugehörige Teilchen waren schon 1964 vorausgesagt worden, waren somit fester Bestandteil des in den frühen 1970er Jahren entwickelten Standardmodells. Der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens 2012 war also eine Bestätigung des Standardmodells, auch wenn man bis zum Schluss nicht sicher sein konnte, ob das Higgs-Teilchen wirklich so existiert und auch so funktioniert, wie im Standardmodell vorhergesagt. Sollte nun am CERN in den nächsten Monaten ein neues Teilchen gefunden werden, wäre das anders: „Das wäre ein Teilchen, mit dem niemand gerechnet hat“, sagt Beck, „das Standardmodell müsste zumindest erweitert und allenfalls neu formuliert werden; was, wenn dies gelingt, einer gewaltigen Horizonterweiterung im Verständnis des Universums gleichkommt.“

Ein Teilchen mit sechs Higgs-Massen?

Ob es soweit kommt, ist zur Zeit noch offen. Denn bisher berichten die Teilchenphysiker aus Genf nur über eine statistische Anomalie. Diese wurde am Large Hadron Collider (LHC) beobachtet, dem grossen Teilchenbeschleuniger, der 2010 am CERN in Betrieb genommen wurde. Am LHC werden Protonen aufeinandergeschossen und anschliessend die Zerfallsprodukte vermessen. Hierbei haben die Physiker nun beobachtet, dass bei diesen Zerfällen auffällig häufig ein Paar von hochenergetischen, isoliert auftretenden Photonen zu beobachten ist, was auf ein neues Elementarteilchen mit der Masse von 750 Gigaelektronenvolt (GeV) hindeuten könnte. Mit 750 GeV wäre das Teilchen etwa sechsmal schwerer als das Higgs-Teilchen. Beide grossen LHC-Experimente ATLAS und CMS bestätigen unabhängig voneinander, dass bei dieser Masse tatsächlich unerwartet viele Photonpaare auftreten.

Noch ist aber unklar, ob der Daten-Peak wirklich Ausdruck eines neuen Teilchens ist – oder nur eine statistische Unschärfe (Fluktuation). Der beobachtete Peak basiert auf den Daten, die von Frühling bis Herbst 2015 am LHC gesammelt wurden. Die Daten sind besonders aussagekräftig, weil der LHC seit 2015 mit einer von 8 auf 13 TeV erhöhten Energie betrieben wird und damit schwere neue Teilchen leichter erzeugen kann, sofern diese denn existieren. Nach einer halbjährigen Pause ist der LHC Anfang Mai wieder in Betrieb gegangen. “Bis im Sommer 2016 werden wir mit den zusätzlichen Daten, die wir jetzt nehmen, ein klareres Bild haben“, sagt Hans Peter Beck. „Die bisherigen Messungen sind vielversprechend, aber noch nicht genug aussagekräftig, damit wir uns sicher sein können.“

Massenhafte Erklärungsversuche

Ein neues Teilchen – es wäre nach dem Higgs das zweite elementare Teilchen, das mit dem LHC entdeckt worden wäre. Die Entdeckung wäre die direkte Folge der Tatsache, dass der LHC heute eine Kollisionsenergie und Kollisionsrate erzeugt, wie noch kein Teilchenbeschleuniger vor ihm. Was aber würde die Entdeckung bedeuten? Seit die Experimentalphysiker vor einigen Monaten Hinweise auf ein solches Teilchen gefunden haben, überbieten sich theoretische Physiker mit Erklärungsversuchen. Über 400 Aufsätze sind in kurzer Folge erschienen, die für die mutmassliche Entdeckung einen Erklärungsrahmen entwerfen. Im Vordergrund stehen drei Deutungen: das neue Teilchen könnte ein schwerer Bruder des Higgs-Teilchens sein; es könnte ein erster Ausdruck von dunkler Materie sein, die nach Auffassung der modernen Physik fast ein Viertel des gesamten Energiehaushalts des Universums ausmacht, bisher aber nirgends gesichtet wurde; oder es könnte ein Graviton sein, jenes Teilchen, das die Gravitationskraft vermitteln soll, und das bisher nur in theoretischen Überlegungen existiert.

Nach der allfälligen Entdeckung eines neuen Teilchen würde es in jedem Fall noch weitere Zeit brauchen, um zu klären, ob eine dieser Deutungen zutrifft, sagt Hans Peter Beck. Denn um ein solches Teilchen näher zu bestimmen, müssen die Zerfallswege der Proton-Proton-Kollisionen noch viel genauer ausgewertet werden. Bevor diese Arbeit allenfalls in den Fokus rückt, wartet die interessierte Öffentlichkeit nun erst einmal gespannt darauf, ob ein Teilchen bei 750 GeV wirklich existiert. Anfang August an der ICHEP-Konferenz in Chicago werden die dannzumal neusten Ergebnisse veröffentlicht.

Autor: Benedikt Vogel

Hinweis: Die Andeutung eines neuen Teilchens bei einer Energie von 750 GeV wurde nicht bestätigt, wenn mehr Daten am LHC nach seinem Neustart im Mai 2016 gesamelt wurden. Weitere Informationen finden Sie in der CERN Pressemitteilung vom 5. August 2016.

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