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Erste Neutrinos aus einer Teilchenkollision am Beschleuniger gesichtet

Das gab es noch nie: Bei den Experimenten FASER und SND@LHC am CERN wurde zum ersten Mal Neutrinos nachgewiesen, das aus einer Teilchenkollision an einem Beschleuniger stammen. Beide Experimente sind auf schwach wechselwirkende Teilchen spezialisiert, um nach noch unbekannten physikalischen Phänomenen zu suchen. Die Wissenschaftler:innen hoffen, dass dieses neue Ergebnis letztlich zu einem besseren Verständnis von Neutrinos selbst und damit zur Klärung einiger offener Fragen in der Teilchenphysik führen wird.

Zwei Mitarbeitende von der Uni Genf testen elektronische Karten des Teilchendetektors FASER während der Inbetriebnahmephase des Experiments im Jahr 2021
Bild: Anna Sfyrla

Die FASER- und SND@LHC-Kollaborationen haben auf einer wissenschaftlichen Konferenz im März über ihren Nachweis von Neutrinosichtungen im Collider berichtet. „Das ist eine wirklich grosse Sache“, sagt Anna Sfyrla, ausserordentliche Professorin an der Universität Genf und Forscherin am FASER-Experiment. „Wir haben nicht nur zum ersten Mal von einem Teilchenbeschleuniger erzeugte Neutrinos direkt nachgewiesen – und das in stattlicher Anzahl! –, sondern es ist auch der Energiebereich der Neutrinos, der dieses Ergebnis so spannend macht.“ Neutrinos wurden zwar schon früher nachgewiesen, aber entweder mit sehr viel geringerer oder mit sehr viel höherer Energie, wie im Fall der kosmischen Neutrinos, die zum Beispiel der IceCube-Detektor am Südpol registriert. „FASER schliesst diese sehr wichtige Lücke und wird es uns ermöglichen, Neutrino-Eigenschaften genau zu untersuchen. Schliesslich sind sie die am häufigsten vorkommenden Teilchen im Universum!“

FASER – kurz für „Forward Search Experiment“ – ist ein Teilchendetektor, der in einem kleinen Seitentunnel in der Nähe des ATLAS-Detektors am CERN sitzt. Er wurde 2017 vorgeschlagen, 2019 genehmigt und in nur fünf Jahren gebaut und in Betrieb genommen. 2022 begann FASER mit der Datenaufnahme. Es sucht nach einer speziellen Art von Teilchen, die bei Kollisionen am Large Hadron Collider (LHC) am CERN erzeugt werden: nämlich die, die die grossen LHC-Detektoren nicht sehen können. Das liegt entweder daran, dass es buchstäblich keine Detektoren gibt, um sie zu fangen, weil sie so nahe am Strahl erzeugt werden, oder daran, dass sie kaum mit anderen Teilchen wechselwirken und daher ungehindert aus der Kollisionszone herausfliegen, um ein Stück weiter stromabwärts zu zerfallen. FASER befindet sich etwa 500 Meter von ATLAS entfernt und ist mit einer Länge von sieben Metern und einem Durchmesser von 20 Zentimetern im Vergleich zu anderen Collider-Detektoren relativ klein. Die Kollaboration besteht aus 85 Mitgliedern aus 22 Institutionen in neun Ländern. In der Schweiz haben die Universitäten Genf und Bern einen wichtigen Beitrag zur Planung, zum Bau und zum Betrieb des Experiments geleistet.

Ein Subdetektor von FASER - entwickelt mit dem Know-how der Universität Bern - ist auf den Nachweis von Neutrinos spezialisiert. Wenn Neutrinos auf den Emulsionsdetektor von FASER treffen, bei dem sich 770 Emulsionsplatten mit ebenso vielen Platten aus schwerem Wolfram abwechseln, interagieren die Neutrinos mit dem Wolfram und erzeugen Myonen, die dann mit dem FASER-Detektor und seinem Spektrometer nachgewiesen werden können. Beschleuniger wie der LHC produzieren eine Fülle von Neutrinos und Antineutrinos aller Art. FASER hat 153 Neutrinoereignisse in den LHC-Kollisionsdaten gesehen, die zwischen Juli und November 2022 aufgezeichnet wurden.

Das andere Experiment, das ebenfalls Kollisions-Neutrinos beobachtet hat, heisst „Scattering and Neutrino Detector at the LHC“ (oder einfach SND@LHC) und ist komplementär zu FASER. Ettore Zaffaroni von der EPFL hat die Ergebnisse auf der Konferenz präsentiert. „Aus insgesamt zehn Milliarden Ereignissen haben wir mit einem sehr genauen Analyseverfahren acht Myon-Neutrinokandidaten identifiziert“, erklärt er. „Das ist ein sehr spannendes Ergebnis“, fügt Martina Ferrillo von der Universität Zürich hinzu, die die Analyse der SND@LHC Collider-Neutrino- Beobachtungen in der Schweiz leitet. „Wir haben die Myonenrate genau gemessen und daraus einen erwarteten Hintergrund von 0,2 Ereignissen abgeleitet. Mit acht Kandidatenereignissen haben wir eine Beobachtung auf dem Niveau von 5 Sigma."

SND@LHC befindet sich ebenfalls in der Nähe des ATLAS-Detektors. Es wurde entwickelt, um Neutrinos zu untersuchen, die in einem kleinen Winkel aus den LHC-Kollisionen herausfliegen, und ist im Vergleich zu FASER empfindlich für ganz andere Neutrino-Produktionsmechanismen. Die Physiker:innen haben sich und ihren Detektor darauf spezialisiert, alle Neutrino-Arten aufzuspüren, und untersuchen die Produktion von charm-Hadronen (also Teilchen, die ein Charm-Quark enthalten) im extremen Vorwärtsbereich. Diese können nämlich Informationen für die Untersuchung hochenergetischer Neutrinos in der kosmischen Strahlung und Erkenntnisse für künftige Collider-Experimente liefern. Darüber suchen sie nach neuen physikalischen Phänomenen in Neutrinowechselwirkungen. Wie FASER verfügt auch SND@LHC über einen Emulsionsdetektor, der sich mit Wolframplatten abwechselt, und beide Kollaborationen warten derzeit auf deren Daten. Sobald sie vorliegen, hoffen die Wissenschaftler:innen, zwischen verschiedenen Arten von Teilchenzerfällen unterscheiden zu können. Der SND@LHC-Detektor kann jedoch dank eines an der EPFL gebauten Szintillationsfaser-Trackers auch Echtzeitinformationen nutzen.

Besonders stolz ist man in der Kollaboration auf die schnelle Umsetzung: „Von der Genehmigung bis zur Datennahme hat es etwas mehr als ein Jahr gedauert“, sagt Zaffaroni. Sowohl die Universität Zürich als auch die EPFL Lausanne sind Mitglieder der SND@LHC-Kollaboration. Sie sind für die Entwicklung und den Bau der elektronischen Detektoren verantwortlich und spielen eine führende Rolle bei der Datenanalyse.

Neutrinos, die erstmals 1930 postuliert und in den 50er Jahren entdeckt wurden, sind ungeladene Teilchen. Sie sind sehr leicht und kommen in drei Arten oder "Geschmacksrichtungen" vor, die direkt mit der Familie der Leptonen verbunden sind: Elektronen-Neutrinos, Myon-Neutrinos und Tau-Neutrinos. Lange Zeit vermutete man, dass Neutrinos gar keine Masse haben. So werden sie auch im Standardmodell der Teilchenphysik dargestellt, der Theorie, die alle Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte beschreibt. Doch vor etwa zwanzig Jahren fanden Wissenschaftler den Beweis, dass Neutrinos von einer Sorte zur anderen wechseln können - ein Prozess, der als Oszillation bezeichnet wird. Dies wiederum bedeutete, dass sie nicht masselos sein können - aber welche Masse sie genau haben und welche der Sorten die schwerste ist, bleibt ein Rätsel.

„Wenn wir mehr Daten erhalten, einschliesslich der Daten des speziellen Emulsionsneutrinodetektors, sollten wir in der Lage sein, verschiedene Arten von Neutrinos zu unterscheiden und ihre Eigenschaften zu untersuchen“, sagt Sfyrla, die für den Trigger (ein Vorauswahl- und Anzeigesystem für ankommende Teilchen) und die Datenerfassung des FASER-Experiments verantwortlich ist. Sie sollten neue Erkenntnisse über die Wechselwirkungen der Geisterteilchen bei hohen Energien liefern, und sowohl FASER als auch SND@LHC könnten neues Licht auf die Physik jenseits des Standardmodells werfen. Sie werden auch Wissenschaftler:innen helfen, die hochenergetische Neutrinos aus astrophysikalischen Quellen untersuchen. Da die Art und Weise, wie Neutrinos am LHC erzeugt werden, dieselbe ist wie bei den hochenergetischen Neutrinos, die bei Kollisionen kosmischer Strahlung mit der Atmosphäre entstehen, können die Messungen von FASER und SND@LHC genutzt werden, um den durch diese Art von Neutrinos verursachten Untergrund genau abzuschätzen.

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Barbara Warmbein

  • Das FASER-experiment während der Installation
  • Zwei Mitarbeitende von der Uni Genf testen elektronische Karten des Teilchendetektors FASER während der Inbetriebnahmephase des Experiments im Jahr 2021
  • Martina Ferrillo (Universität Zürich) bei der Montage des Neutrinoemulsionstargets in der Dunkelkammer am CERN. Die Wagen enthalten die verschiedenen Lagen des SND@LHC-Detektors
  • Der SND@LHC-Detektor am CERN
  • Das FASER-experiment während der InstallationBild: CERN1/4
  • Zwei Mitarbeitende von der Uni Genf testen elektronische Karten des Teilchendetektors FASER während der Inbetriebnahmephase des Experiments im Jahr 2021Bild: Anna Sfyrla2/4
  • Martina Ferrillo (Universität Zürich) bei der Montage des Neutrinoemulsionstargets in der Dunkelkammer am CERN. Die Wagen enthalten die verschiedenen Lagen des SND@LHC-DetektorsBild: Martina Ferrillo3/4
  • Der SND@LHC-Detektor am CERNBild: CERN4/4

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  • Elementarteilchenphysik

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