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Bild: ESO

CHIPP-Preis 2017 geht an Johanna Gramling

Der experimentelle Nachweis von Dunkler Materie ist eine der ganz grossen Herausforderungen der aktuellen physikalischen Grundlagenforschung. Die Physikerin Dr. Johanna Gramling erhält für ihre jüngsten Beiträge zur Suche nach dieser geheimnisvollen Form der Materie den diesjährigen Preis des Schweizer Instituts für Teilchenphysik (Swiss Institute of Particle Physics/CHIPP).

The CHIPP Prize winner 2017: Dr. Johanna Gramling.
Bild: private

„Ich freue mich sehr über diese Auszeichnung und verstehe sie als Wertschätzung meiner Arbeit, die ich in den letzten Jahren am CERN geleistet habe“, sagt Johanna Gramling. Die 29jährige Physikerin durfte heute [1] den CHIPP-Preis entgegennehmen, der anlässlich der CHIPP-Jahresversammlung in Genf vergeben wurde. Der Preis wird jedes Jahr einer Nachwuchsforscherin oder einem Nachwuchsforscher für eine herausragende wissenschaftliche Leistung zugesprochen. Es handelt sich um die renommierteste Auszeichnung im Bereich der Schweizer Teilchenphysik.

Johanna Gramling erhält den CHIPP-Preis für ihre Doktorarbeit, die sie Ende 2016 an der Universität Genf bei Prof. Xin Wu, einem Spezialisten für Dunkle Materie, abgeschlossen hatte. Das wissenschaftliche Werk ist Ausdruck von Gramlings mehrjähriger Forschungstätigkeit am ATLAS-Detektor. ATLAS ist eines der vier grossen Experimente am CERN-Teilchenbeschleuniger LHC. Die Jury des CHIPP-Preises zeichnet die Wissenschaftlerin aus „für ihre Arbeiten rund um die Suche nach Dunkler Materie mit dem ATLAS-Detektor und ihre Rolle bei der Etablierung von vereinfachten Modellen für die theoretische Interpretation dieser Suchergebnisse“, wie es in der Laudatio heisst.

Die grossen Fragen der Menschheit

Johanna Gramling wurde 1988 geboren und wuchs als Tochter einer Lehrerin und eines Elektroingenieurs in der Nähe von Darmstadt auf. Während des Gymnasiums entdeckte sie ihre Begeisterung für Physik und Philosophie: „Ich fand diese Fächer sehr spannend, und zwar gerade in dieser Kombination. Denn Physik und Philosophie widmen sich den ganz grossen Fragen der Menschheit; bei der Physik ist das noch weit mehr der Fall als bei anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen“, sagt Gramling. Die Deutsche kannte schon als Gymnasiastin keine Scheu vor komplexen Fragestellungen. In einem zweiwöchigen Sommerkurs befasste sie sich damals mit den Interpretationen der Quantenmechanik, also jener physikalischen Teildisziplin, die unser intuitives Verständnis der Welt so sehr auf die Probe stellt.

Physik und Philosophie waren denn auch die beiden Fächer, die Gramling an der Universität Heidelberg belegte. Nach fünf Jahren schloss sie das Studium 2011 mit der Diplomarbeit ab. Zu dem Zeitpunkt hatte sie längst das CERN als das weltweit führende Labor der teilchenphysikalischen Forschung entdeckt. Sie hatte dort während des Studiums ein Forschungspraktikum absolviert. Gramlings Diplomarbeit bewegte sich schliesslich im Umfeld von ALICE, ebenfalls eines der grossen Experimente, das Wissenschaftler am CERN-Teilchenbeschleuniger LHC durchführen.

Suche nach einer unsichtbaren Materie

Ab Frühjahr 2012 widmete sich Johanna Gramling ihrer Doktorarbeit. Dafür wechselte sie von Heidelberg nach Genf an das ATLAS-Experiment des CERN. In der 27 km langen, kreisförmigen Tunnelröhre des Large Hadron Collider (LHC) werden Protonen auf hohe Energien beschleunigt und dann aufeinandergeschossen. Die Physiker des ATLAS-Experiments untersuchen, welche Teilchen bei der Kollision von Protonen entstehen. Durch Analyse dieser Teilchen gewinnen sie wertvolle Hinweise zum Aufbau der Materie. Auf diesem Weg war vor fünf Jahren das Higgs-Teilchen entdeckt worden.

Johanna Gramling möchte gemeinsam mit dem ATLAS-Team ebenfalls neue Teilchen finden: jene, aus denen die sogenannte Dunkle Materie besteht. Diese Teilchen werden als WIMPs – für: Weakly interacting massive particles – bezeichnet. Obwohl noch kein Mensch Dunkle Materie beobachtet hat, besteht unter Physikern Konsens, dass unser Universum voll von Dunkler Materie sein dürfte. Es soll davon sogar fünf Mal mehr geben als von der uns bekannten Materie, die wir von Auge oder mit Mikroskopen bzw. Teleskopen beobachten können. Viele astrophysikalische Phänomene lassen sich nur erklären, wenn man die Existenz von Dunkler Materie annimmt. Allerdings fehlt für die Existenz dieser 'unsichtbaren' Materie nach wie vor der Nachweis.

An Versuchen, diesen Nachweis zu erbringen, hat es nicht gefehlt, seit der Schweizer Astronom Fritz Zwicky die Existenz Dunkler Materie in den frühen 1930er Jahren postuliert hat. In den letzten Jahren wurden grosse unterirdische Detektoren gebaut in der Hoffnung, mit ihnen Kollisionen von WIMPs mit der uns bekannten Materie direkt messen und damit die Existenz Dunkler Materie nachweisen zu können. Teilchenphysiker versuchten aber auch, Dunkle Materie indirekt zu messen: Sie richten Teleskope ins Zentrum unserer Galaxie oder auf unsere Sonne. Diesen Beobachtungen lag die Annahme zugrunde, bei der Kollision von zwei WIMPs würde die uns bekannte Materie entstehen, die sich nachweisen liesse. Weder auf direktem noch auf indirektem Weg ist der Nachweis von Dunkler Materie bisher allerdings gelungen.

Zwei Signaturen von Dunkler Materie

Johanna Gramling und viele Forscherkollegen gehen einen dritten Weg, um Dunkle Materie aufzuspüren: Sie wollen den Teilchenbeschleuniger LHC nutzen, um WIMPs zu produzieren. Sie gehen dabei von der Annahme aus, dass WIMPs bei der Kollision von zwei Teilchen der uns bekannten Materie (konkret: Protonen) entstehen. Trifft diese Annahme zu, lässt sich Dunkle Materie womöglich am LHC nachweisen. „Wir suchen in den Spuren, die die Kollision von zwei Protonen hinterlassen, nach speziellen Signaturen, die neben uns bekannten Teilchen zugleich auch auf Dunkle Materie schliessen lassen“, sagt Johanna Gramling. Theoretische Überlegungen lassen vermuten, dass sich Dunkle Materie entweder zusammen mit einem Teilchenstrahl (Jet) beobachten lassen könnte, oder – weit schwieriger nachzuweisen – zusammen mit einem Paar von Top-Quarks. Das Top-Quark ist das schwerste der sechs bekannten Quarks.

Können Wissenschaftler eine dieser beiden Signaturen in den Spuren der Proton-Proton-Kollisionen dingfest machen, könnte der Nachweis von Dunkler Materie gelingen. Genau diesen Versuch hat Johanna Gramling in ihrer Doktorarbeit unternommen. Dafür war intellektueller Scharfsinn gefragt: Die Teilchenphysikerin musste aus den 700 Millionen Proton-Proton-Kollisionen pro Sekunden, die sich im LHC ereignen, jene auswählen, die als Kandidaten für eine der beiden genannten Signaturen in Frage kommen. Im zweiten Schritt musste sie überprüfen, ob die ausgewählten Ereignisse so häufig vorkamen, dass sie als statistisch relevantes Signal – und damit Beweis für die Existenz Dunkler Materie – interpretiert werden können.

Für ihre Arbeit nutzte die Wissenschaftlerin die Daten der Proton-Proton-Kollisionen, die der LHC im Jahr 2012 bzw. in den Jahren 2015/16 produziert hatte. Um einen Eindruck von der Komplexität der Aufgabe zu geben: Auf der Suche nach Kandidaten für die Topquark-Signatur hat Johanna Gramling eine Million mal eine Milliarde Kollisionsereignisse untersucht und darunter 35 Kandidaten identifiziert. Eine Zeitlang sah es tatsächlich aus, als hätten sie und ihre Kollegen einen experimentellen Hinweis auf die Existenz Dunkler Materie. Als weitere Daten einbezogen und die statistische Aussagekraft der Analyse damit weiter erhöht wurde, folgte die Ernüchterung: Die vermeintliche Entdeckung Dunkler Materie entpuppte sich als Trugbild. Wissenschaftler sprechen von einer 'statistischen Fluktuation'.

Mehr Daten, komplexe Signaturen

In mehrjähriger Arbeit hat Johanna Gramling gezeigt: Weder im Verbund mit einem Jet, noch in Verbindung mit Topquarks lässt sich in den LHC-Daten von 2012 bzw. 2015/16 Dunkle Materie nachweisen. Ist damit klar, dass sich Dunkle Materie über diese beiden Signaturen nie wird nachweisen lassen? „Keineswegs“, entgegnet Johanna Gramling, „wir können nur sagen, dass wir mit den analysierten Daten keine Dunkle Materien nachweisen konnten. Vielleicht sind die erhofften Signale aber auch einfach sehr, sehr selten. Wenn dies so ist, können wir eine dieser Signaturen vielleicht doch noch nachweisen, wenn wir in Zukunft eine grössere Zahl von LHC-Kollisionsdaten für unsere Analysen nutzen können.“

Wer denkt, das negative Zwischenresultat würde Johanna Gramling entmutigen, der irrt. „Meine Arbeit ist ausserordentlich spannend, ich will sie unbedingt weiterführen“, sagt die Physikerin, die künftig neue Konzepte von Dunkler Materie in ihre Überlegungen einbeziehen will. „Es ist ja auch denkbar, dass Dunkle Materie gar nicht aus WIMPs besteht, sondern vielleicht aus mehreren Dunkle-Materie-Teilchen mit komplexeren Signaturen, als die, die wir bisher untersucht haben. Hier liegt viel faszinierende Arbeit vor uns.“

Die Jagd nach der Materie, die kein Mensch bisher gesehen hat, geht also weiter. Johanna Gramling arbeitet gegenwärtig als Postdoc in einer Arbeitsgruppe, die zur University of California in Irvine gehört. Sie gehört zu jener Teilgruppe, die vor Ort am CERN arbeitet. „Dieses Team ermöglicht mir, jenen Fragen nachzugehen, die mich am meisten interessieren“, sagt Gramling. Sie und ihre Kollegen können sich bei der künftigen Suche nach der Dunklen Materie auf weitere Ergebnisse stützen, die ebenfalls aus Gramlings Dissertation hervorgegangen sind. Dort hat Johanna Gramling vereinfachte Theoriemodelle untersucht, die die Erfolgschancen auf der Suche nach Dunkler Materie verbessern. Es sind diese 'vereinfachten Modelle', die die Jury des CHIPP-Preises in ihrer Laudatio als herausragende wissenschaftliche Leistung gewürdigt hat.

Autor: Benedikt Vogel

[1] Joint Annual Meeting of the Swiss Physical Society and Austrian Physical Society: https://indico.cern.ch/event/611331/overview

Dazu gehört

Porträt Lilian Witthauer

CHIPP-Preis 2015

Der Universalgelehrte Heinrich Faust stellt in Johann Wolfgang von Goethes bekanntem Theaterstück die Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält. Um eine Antwort zu finden, verschreibt sich Faust sogar der

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