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Velotopien und Mobilitätsszenarien der Zukunft

ProClim Flash 68

Wie sieht eine klimakompatible Gestaltung des Mobilitätssektors aus? ProClim Flash hat bei einem Berner Velo nachgefragt und sein Leben in der Zukunft aufgezeichnet.

ProClim Flash 68: Velotopien und Mobilitätsszenarien der Zukunft
Bild: ProClim

«Federleicht rolle ich über die Berner Laupenstrasse. Dank der Karbonfasern im Rahmen bin ich für meine Fahrerin ein Superleichtgewicht. Locker tritt sie in meine Pedale und schon nähern wir uns dem breiten, übersichtlichen Bubenbergplatz. Links und rechts sehe ich meine Berufskollegen: Das Lastenvelo neben mir hat eine junge Mutter samt Markteinkäufen und zwei kleinen Kindern geladen. Dank Batterieunterstützung kommt das Gespann locker voran und die Kids können über mein Mario Kart-Hologramm neben mir lachen. Vor mir galoppiert eine Gruppe Kindervelos ihre Schülerinnen Richtung Schule mit genügend Platz auf allen Seiten. Der Velokurier mit einer meiner sportlichsten Kolleginnen im Sattel flitzt wie auf der Überholspur an mir vorbei. Keck schielen sie beide zu mir herüber und zwinkern.

Ich erinnere mich gut. Ohrenbetäubender Verkehrslärm statt Kindergeschrei und Augenzwinkern machten die Laupenstrasse zu einer hektischen Zone, wie in so vielen anderen Schweizer Städten auch. An den Rand gedrängt mussten wir Richtung Zentrum kämpfen. Immer noch ist die breite Verkehrsader kein Ort der Entspannung. Stillere Verkehrsmittel mit Strom statt Kohle im Tank haben aber den Platz der laut motorisierten und abgasstarken Autos und Lastwagen übernommen. Vom Bahnhof her kann ich mittlerweile sogar die Züge hören. Die nehmen mich jetzt kostenlos mit und haben genügend Abteile für mich und meine Velogenossen – wie damals für die Raucher, als es noch Raucherabteile gab.

Mein Energielieferant im Sattel kann während dem Strampeln dank der gewonnenen Ruhe mit seiner Freisprechanlage problemlos telefonieren. Ganz zu schweigen von der glasklaren Stimme aus dem Navi: Jetzt versteht er sogar die Hinweise auf die schnellsten Verkehrsrouten. Per Knopfdruck projiziere ich alle Informationen inklusive Strassennamen, Restaurants und Läden in der Nähe vor uns auf den Asphalt. Die Digitalisierung hat selbst mich – das einst letzte anarchische, analoge Verkehrsmittel – erfasst. Nur noch wenige meiner Kollegen und Kolleginnen kommen ohne Hightech und Elektronik aus. Es gibt sie schon noch, die «Off Grid Junkies» und Rebellen unserer Zeit. Doch die Mehrheit meiner Kolleginnen fahren mit elektrischer Unterstützung, sind verkabelt und vernetzt. Lästige Anstiege verursachen keine un- gewollten Schweisstropfen mehr. Auch verloren gehen oder gestohlen werden können wir nicht mehr. Dank versteckten GPS-Trackern im Gehäuse sind wir auch bei Tageslicht gut vor Diebstahl geschützt. Wird es dunkel, machen uns LED-Leuchten sichtbar und sicher genauso wie Lasersensoren, die Alarm schlagen, falls Objekte zu schnell näher kommen.

Ganz zu schweigen von weiterem Komfort, der unsereiner unseren Fahrerinnen bieten kann: Setzt leichter Regen ein, ist es Zeit, mein neuestes Upgrade auszufahren. Eine dünne Klarsichtplastikwand rollt sich aus dem unteren Teil des Sattels, baut sich um uns auf und verwandelt mich vom Cabriolet zur Limousine. Ein Mini-Schwenker und Aerodynamik und Gleichgewicht sind wieder im Lot. Die Heizelemente im Sattel und am Lenker gehen automatisch an und geben die Strampelenergie zurück. Ein gutes Gefühl.

Heute kann ich nur staunen, welcher kulturelle und politische Kampf um die Vorherrschaft der Verkehrsmittel in den Städten damals herrschte. Eine ausgewogene Abwägung der Vorteile der verschiedenen Fortbewegungsmittel war in gewissen Zeiten kaum mehr möglich. Kein anderes Verkehrsmittel konnte sich aber so klimafreundlich, kostenschonend, raumeffizient, gesundheitsfördernd und schnell im urbanen Raum bewegen wie ich, das Velo. Laut Bundesamt für Strassen brauche ich zehnmal weniger Platz als ein Auto. Trotz- dem gehörte ein grosser Teil des öffentlichen Bodens für Mobilität über Jahrzehnte den motorisierten Gefährten, schon bevor sie elektrisiert waren. Von den 37 Kilometern, die Herr und Frau Schweizer im Jahr 2015 noch durchschnittlich jeden Tag zurücklegten, sassen sie lediglich einen Kilometer im Sattel unseresgleichen – egal ob mit oder ohne elektrische Unterstützung. Stolze 24 Kilometer zeigten die Tachos der Autos. Die Mobilität diente primär Freizeitaktivitäten mit einem Anteil von 44 Prozent. Erst an zweiter Stelle folgte der Arbeits- weg mit 24 Prozent.

Der Klimawandel hat mitgemischt beim Neuverteilen der Karten. 2015 machte der Verkehr satte 32 Prozent der Schweizer Treibhausgasemissionen aus. Die Frage kam auf, ob der motorisierte Individualverkehr bei dieser Ausgangslange noch tragbar sei. Wir Velos schwangen in der Emissionsstatistik obenaus – also eigentlich untenaus. Auf kurzen Strecken bis fünf Kilometer mit dem Rad oder zehn Kilometer mit Elektrounterstützung wurde das Umstiegspotenzial früh erkannt. Auch zeitlich haben wir das Rennen gewonnen: Wir waren schneller und der Begriff «Langsamverkehr» wurde abgeschafft.

Für meinesgleichen sind die Rahmenbedingungen entscheidend. Das haben die Expertinnen früh erkannt. Deshalb fahren im Stadtverkehr autonom gesteuerte Trams und Busse auf wenigen zentralen Routen und höchstens mit 30 Stundenkilometern. Autos – egal mit welchem Antrieb und wie gross – stehen in den Parkhäusern am Stadtrand. Das reibungslose Miteinander ist garantiert. Wer dachte schon, dass Immobilienpreise an vormals befahrenen Strassen emporschnellten, Strassencafés mit Blick auf Fussgängerzonen und Grünräume eröffneten und Kinder auch dort spielten, wo Rollatoren langsam rollten. Das Bild meiner Stadt hat sich mächtig geändert: Velokontaktzonen, begrünte Oberflächen und der Natur wird wieder Einlass gewährt. Sie erlebt einen noch nie dagewesenen Aufschwung. Die Nächte verbringe ich sicher in einer Velostation. Oben abgestellt werde ich automatisch mit elektronischen Armen gepackt und rasch an meinen Platz gestellt. Hier unten ist alles ordentlich und ich stehe keinem im Weg. Meine faltbaren Kollegen ruhen dank ihren Verwandlungskünsten gar im Büro oder in der Wohnung.»

Quelle: REFERENZEN [1] Bundesamt für Strassen ASTRA (2013) Planung der LV-Netze aus Bundessicht. HSR «CAS Nachhaltige Mobilität 2013». [2] Bundesamt für Statistik BFS, Bundesamt für Raumentwicklung ARE (2017) Verkehrsverhalten der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr 2015, Neuchâtel und Bern. [3] Bundesamt für Umwelt BAFU (2018) Treibhausgasinventar.

  • Anteil der Freizeitfahrten, Autofahrten kürzer als 5 Kilometer, Anteil der Schweizer Haushalte mit Velo
  • Flächenbedarf von Velo und Auto während der Fahrt (m2 pro Person)
  • Tagesdistanz pro Person in der Schweiz
  • Anteil der Freizeitfahrten, Autofahrten kürzer als 5 Kilometer, Anteil der Schweizer Haushalte mit VeloBild: Daten: ASTRA (2013) / BFS (2017)1/3
  • Flächenbedarf von Velo und Auto während der Fahrt (m2 pro Person)Bild: Daten: ASTRA (2013)2/3
  • Tagesdistanz pro Person in der SchweizBild: Daten: BFS (2017); Grafik: Sarah Arnold3/3

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