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Claudia Merlassino gewinnt den CHIPP-Preis 2020

Der unbekannte Partner des Topquark

Claudia Merlassino wurde in Genua geboren, ist hat in Mailand Physik studiert und im Oktober 2019 an der Universität Bern ihre Doktorarbeit abgeschlossen, seither forscht sie im britischen Oxford. Mit ihren 28 Jahren hat die italienische Experimentalphysikerin schon einen beachtlichen Weg als Forscherin zurückgelegt. Jetzt erhält sie den Doktorandenpreis der Schweizer Teilchenphysik – unter anderem für ihre Erkenntnisse rund um das massereichste aller Elementarteilchen.

Claudia Merlassino, CHIPP Prize 2020

An praktisch allen Schweizer Universitäten wie auch an den Eidgenössisch Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne ist die Teilchenphysik in Lehre und Forschung präsent. Die betreffenden Institute kooperieren im Swiss Institute of Particle Physics (CHIPP). Jedes Jahr zeichnet CHIPP eine Nachwuchsforscherin oder einen Nachwuchsforscher für herausragende wissenschaftliche Leistungen mit dem CHIPP-Preis aus.

Diese Ehre wird im laufenden Jahr Dr. Claudia Merlassino zuteil. Der Preis wird ihr am 1. Juli 2020 anlässlich des Jahresmeetings der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft zuerkannt. Da die Konferenz in diesem Jahr bedingt durch die Corona-Krise als Online-Konferenz stattfindet, wird Merlassino die traditionelle Preisrede erst im Herbst halten, anlässlich der CHIPP-Vollversammlung vom 15. Oktober 2020. Merlassino wird ausgezeichnet – so formuliert es die CHIPP-Jury in ihrer Laudatio – «für ihre herausragenden Beiträge zur Entwicklung neuer Analysestrategien bei der Suche nach einer Physik jenseits des Standardmodells an den LHC-Experimenten, aber auch für Konzeption und Durchführung einer innovativen Studie über die Strahlenschäden am ATLAS-Detektor, dies im Lichte der geplanten Erhöhung der Luminosität am LHC».

Von Bern nach Oxford

Die Würdigung der Jury ist für Personen, die selber nicht Teilchenphysiker sind, auf Anhieb nur schwer zu verstehen. Wer mehr erfahren will, fragt am besten direkt bei Claudia Merlassino nach. Der Journalist erreicht die Physikerin per Skype im Süden der Stadt Oxford. In einem gemieteten Haus verbringt sie gegenwärtig die meiste Zeit, weil die Räumlichkeiten der Universität Oxford aus Gründen des Gesundheitsschutzes noch immer verschlossen sind. Von hier aus lehrt sie mit Videotutorials und führt im Computernetzwerk komplexe Datenanalysen durch. Man spürt aus ihren Worten, dass ihr der persönliche Austausch mit Fachkolleginnen und -kollegen fehlt.

«Nachdem ich mehrere Jahre an meiner Doktorarbeit gearbeitet habe, bin ich sehr stolz über diese Auszeichnung», freut sich Claudia Merlassino, «wenn ich im Oktober den Preis persönlich entgegennehmen kann, wird mir das die Möglichkeit bieten, in die Schweiz zurückzukommen, wo meine Doktorarbeit entstanden ist.» Das war von 2016 bis 2019 am Physikinstitut der Universität Bern. Dort hatte Merlassino die Vorzüge einer überschaubaren Forschergruppe kennengelernt. Jetzt, in Oxford, ist sie Teil eines deutlich grösseren, aber auch unübersichtlicheren Forschungsinstituts.

Verraten LHC-Daten ein neues Teilchen?

Was ist nun aber mit den «neuen Analysestrategien» gemeint, von denen die Laudatio der CHIPP-Jury spricht, welche die Tür zu einer neuen, bisher unbekannten Welt der Physik aufstossen könnten? Claudia Merlassino hat in ihrer Doktorarbeit Daten von Proton-Proton-Kollisionen analysiert, die zwischen 2015 und 2018 am Large Hadron Collider (LHC) aufgezeichnet wurden. In dem riesigen Datenpool des CERN-Teilchenbeschleunigers hat sie nach einen neuen, bisher hypothetischen Teilchen gesucht, das dem 1995 entdeckten Topquark – dem massereichsten aller Elementarteilchen – ähnlich wäre, das aber einen anderen Spin hätte.

Das Teilchen trägt im Englischen die Bezeichnung ‹top squark› (oder kurz: ‹stop›). Das Topsquark wird von Physikern im Rahmen der Theorie der Supersymmetrie vorhergesagt, welche für alle Teilchen des Standardmodells Partnerteilchen voraussagt. Das Topsquark wäre der ‹Superpartner› des Topquarks. Wie das Higgs-Boson würde es keinen Spin besitzen. Welche Masse das Topsquark hat, wenn es denn existiert, ist durch den theoretischen Rahmen der Supersymmetrie nicht definiert und müsste deutlich höher sein als jene des normalen Topquarks. «Ich konnte in meiner Doktorarbeit zeigen, dass das Teilchen nicht in einer leichten Version existiert; wenn es das Topsquark tatsächlich gibt, muss es eine relativ grosse Masse von vier bis fünf Mal der Masse des normalen Topquarks haben, abhängig vom betrachteten Modell», bringt Claudia Merlassino die Quintessenz ihrer Analyse auf den Punkt. Bei der gegenwärtigen Forschungsarbeit in Oxford arbeitet die Wissenschaftlerin weiterhin mit den LHC-Daten aus den Jahren 2015/18. Sie benutzt dabei die Ergebnisse aus der Suche nach dem unbekannten Partner des Topquark, um das 2012 entdeckte Higgs-Bosons präziser zu charakterisieren. Insbesondere untersucht sie den Zerfallsmodus des Higgs in sogenannte unsichtbare Teilchen, die mit dem ATLAS-Experiment nicht direkt nachgewiesen werden können.

Detektor vor Strahlenschäden schützen

Wer den CHIPP-Preis erhält, der hat in seiner Dissertation nicht nur seine Analysefähigkeiten demonstriert, sondern auch seine experimentellen Fertigkeiten. So hat Merlassino in ihrer Dissertation einen zweiten wichtigen Akzent gesetzt. Gemeint ist jener Teil der Doktorarbeit, den die CHIPP-Jury in ihrer Laudatio als «innovative Studie über Strahlenschäden am ATLAS-Detektor» bezeichnet. Diese Untersuchung wollte sicherstellen, dass der grosse ATLAS-Detektor des CERN auch dann zuverlässig arbeitet, wenn der LHC ab dem Jahr 2025 mit einer höheren Leistung (‹Luminosität›) betrieben wird.

Claudia Merlassino zu dem Zweck in ihrer Dissertation vier Arten von Siliziumsensoren auf ihre Robustheit gegenüber Strahlung hin untersucht (mehr Informationen dazu finden Sie hier). Obwohl Claudia Merlassino ihr Projekt erfolgreich abgeschlossen hat, hat die Forschergemeinschaft des ATLAS-Experiments unterdessen entschieden, einen anderen Sensor in den ATLAS-Detektor einzubauen. «Welches Bauteil sich für einen Detektor am besten eignet, ist immer von vielen Kriterien abhängig. Auch wenn ich zeigen konnte, dass die von mir untersuchten Sensoren sehr robust gegen Strahlung sind, hat sich die ATLAS-Kollaboration aus anderen Gründen für einen anderen Sensor entschieden», sagt Claudia Merlassino.

Ein Leben als Forscherin

Doch auch auf diesem Weg hat Merlassino einen Beitrag zur Fortsetzung der CERN-Forschung geleistet. Und wen es nach ihr geht, war das nicht der letzte Beitrag. Im Oktober 2020 – so ist es gegenwärtig geplant – soll das Europäische Labor für Teilchenphysik nach dem Corona-bedingten Lockdown wieder seine Arbeit aufnehmen. Dann, hofft Merlassino, wird sie ihren Arbeitsplatz im Auftrag der Universität Oxford ans CERN nach Genf verlegen können. Denn für sie steht fest: «Meine berufliche Zukunft sehe ich als Forscherin in der Teilchenphysik.»

Autor: Benedikt Vogel

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