Die Teilchenphysik erforscht die grundlegenden Bausteine der Materie und ihre Wechselwirkungen, die den Aufbau der Materie unseres Universums bestimmen. Das Webportal macht die faszinierende Forschung einer interessierten Öffentlichkeit verständlich.mehr

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Debatte Locarno

Lebendige Materie oder tote Materie?

Lohnt sich das eigentlich? Milliarden von Franken an Investitionen, um ein neues Teilchen zu entdecken? Und dann? Leben die Menschen wirklich besser? Was nützt die Physik? Und welche Folgen hat sie für die Medizin? Genau über diese Fragen haben am 4. April 2014 die Physikerin Martina Bucciantonio (35) und der Mediziner Franco Cavalli (71) unter der Leitung des Journalisten Gerhard Lob im Gymnasium von Locarno leidenschaftlich diskutiert. Das Gespräch mit dem Titel „Lebendige Materie oder tote Materie?“ fand im Beisein von gut 50 Schülerinnen und Schülern der 13. Klasse statt.

Das Publikum: Gut 50 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums von Locarno.
Bild: B. Vogel

Bei „Physik“ denken Schüler wahrscheinlich zuerst an die Dynamik von Festkörpern, an die Prinzipien der Thermodynamik, an elektrische Schaltkreise und vor allem an sehr viel Mathematik. Erst in einem zweiten Schritt kommen ihnen wohl X-Strahlen oder Röntgen-Strahlen in den Sinn, die beispielsweise beim Zahnarzt eingesetzt werden, um ein Röntgenbild zu machen. Doch die Entdeckung durch Wilhelm Röntgen am 8. November 1895 war eine Revolution. Erstmals setzte er diese Strahlen am 22. Dezember des gleichen Jahres ein, um ein Bild der Hand seiner Ehefrau zu machen (vielleicht war es auch die Hand einer anderen Person). Mit diesem historischen Exkurs zu Röntgen begann Martina Bucciantonio ihren Fachvortrag. Sie arbeitet zurzeit an ihrer Doktorarbeit am CERN in Genf und beschäftigt sich mit medizinischen Anwendungen der Teilchenphysik, insbesondere mit der Hadronentherapie.

Doch zuerst erzählte die Wissenschaftlerin über ihren persönlichen Werdegang. Sie sprach darüber, wie sie nach der Matura hin- und hergerissen war zwischen einem Physik- und Medizinstudium. „Nachdem ich mich für Physik entschieden hatte, dachte ich zuerst, in Richtung Grundlagenforschung zu gehen, doch dann habe ich mich irgendwann für einen anwendungsorientieren Bereich entschieden“, so Bucciantonio. Von ihrem Studienort Pisa ging sie ans Fermilab in die USA, bevor sie nach Genf ans CERN kam, diesem faszinierenden „Melting-Pot“ von Mitarbeitern aus 100 unterschiedlichen Ländern, wie sie sagt. Und wo ist die nächste Station einer Teilchenforscherin? Schwierig zu sagen. Das Leben von Forscheren ähnelt laut Bucciantonio ein wenig dem Leben von Bettelmönchen im Mittelalter. Sie sind immer unterwegs. Das bedeutet auch, Kompromisse in Bezug auf das Privatleben einzugehen.

15 000 Teilchenbeschleuniger

Hat die Forschung einen Nutzen? Immer wieder kehrt man zu dieser Frage zurück. Und die Antwort lautet: natürlich. Der Large Hadron Collider beim CERN ist der grösste Teilchenbeschleuniger der Welt, aber keineswegs der einzige. Rund 15‘000 Teilchenbeschleuniger existieren weltweit. Sie werden auch in Spitälern und Kurhäusern eingesetzt und kommen in der Strahlentherapie zur Anwendung. Die Rede ist von der traditionellen Strahlentherapie, bei der elektromagnetische Wellen und insbesondere Röntgenstrahlen angewendet werden. Aber es gibt auch die neue Hadronentherapie, bei der Protonen und Ionen eingesetzt werden. Mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften. „Während die Photonen auf die Oberfläche einwirken, dringen energiereiche Teilchen wie Protonen tiefer ein, auch Dutzende von Zentimetern ins Gewebe. Dort entlädt sich ihre Energie an einer klar definierten Stelle“, sagt Bucciantonio. „Daher sind diese Protonentherapien sinnvoll, um ein Target wie einen tief liegenden Tumor zu treffen. Doch dessen Lage muss natürlich besonders exakt vorbestimmt werden, um eine Schädigung des umliegenden Gewebes zu vermeiden.“

Neben der Physikerin sitzt der Arzt Franco Cavalli auf dem Podium, ein international bekannter Onkologe. Eigentlich wollte er Journalist werden, erzählt er. Doch sein Vater verlangte, dass er „etwas Ordentliches“ lernt. Und damals gab es für Studierwillige aus dem Tessin praktisch nur die Wahl, Ingenieur, Anwalt oder Arzt zu werden. Er entschied sich für die letztere Variante, zumal er glaubte, in einem damals besonders innovativen Bereich seine politisch-sozialen Ideale ausleben zu können: der Psychiatrie. „Die Bewegung glaubte, die Verrückten für die Revolution einsetzen zu können“, so das Credo. Doch schon bald wandte er sich davon ab und setzte auf die innere Medizin, insbesondere die Onkologie. Hier glaubte er, seinen wissenschaftlichen Durst besser mit seiner politischen Leidenschaft versöhnen zu können. „Tatsächlich sind die Ursachen für bösartige Tumore zu 50 Prozent im Verhalten der betroffenen Personen und in Umweltfaktoren begründet. Die direkte Beziehung zur Gesellschaft ist gegeben. Zumal die Onkologie viele Aspekte der Medizin einschliesst, von der Biochemie über die Genetik bis zur Psychologie der Patienten.“ Generell ist die Psychologie sehr eng mit der Onkologie verknüpft: „Bei Krebskranken denkt man an den Tod und will sie vermeiden. Die Kranken werden daher leicht ausgegrenzt. Beim behandelnden Onkologen fühlen sich die Patienten akzeptiert und aufgehoben.“

Soweit die klinische Betrachtung. Aber die Forschung? Welche Rolle spielt sie? Hier liegt die Schnittstelle zwischen dem Onkologen und der Physikerin. „Krebs wird es immer geben, weil lebendige Materie ohne einen Wandlungsprozess nicht existieren kann“, meint Cavalli. Doch auch wenn man diese Krankheit kaum definitiv ausmerzen könne, könne man lernen, damit umzugehen. Die Fortschritte der letzten Jahrzehnte sind laut Cavalli gewaltig und ermutigend: In den 1970er Jahren überlebten nur 15 Prozent der an Krebs erkrankten Personen, inzwischen liegt die Rate bei 50 Prozent. „In der Forschung ist die Zusammenarbeit mit den Ärzten fundamental“, fügt ihrerseits Bucciantonio an, „dies gilt für die medizinische Physik, in der es darum geht, ein einwandfreies Funktionieren der Behandlungsapparate zu garantieren und einen Therapieplan zu erarbeiten, aber auch für den Physiker in der Grundlagenforschung. Die Ärzte können den Physikern wichtige Anregungen und neue Ideen liefern.“

Doch wie effizient ist die Hadronentherapie? Bucciantonio meint: „Eine konventionelle Therapie ist kostengünstiger. Für die Hadronentherapie braucht es noch etwas Zeit, um statistisch vergleichbare Werte zu haben. Doch wir sind auf gutem Weg.“ Cavalli meint: „Die Statistik muss aber auch die Zeiträume berücksichtigen, in denen die Patienten mit anderen Methoden behandelt werden, ansonsten ist ein Vergleich nicht möglich.“

Eine Schülerin will wissen, was die bekanntesten Ursachen für Krebserkrankungen sind. „Asbest, Tabak, Alkohol, Infektionen, toxische Substanzen und Strahlen. Diese Faktoren erzeugen einen ersten Schaden, aus dem sich dann ein Tumor entwickelt“, sagt der Onkologe. Es gibt aber auch andere Faktoren, welche Krebszellen am Leben erhalten, obwohl der Körper sie eigentlich spontan zerstören würde. Solche Faktoren sind etwa eine schlechte Ernährung oder Übergewicht. Laut Cavalli ist es daher keineswegs merkwürdig, dass gerade in Entwicklungsländern die Zahl der Tumore explosionsartig zunimmt. Denn die dortigen Ernährungsgewohnheiten gleichen sich immer mehr den unsrigen an.

Kampf gegen Krebs

„Welche Krebsarten lassen sich am besten heilen?“, will eine andere Schülerin wissen. „Die Strahlentherapie, insbesondere die Chemotherapie unterscheidet nicht zwischen gesunden und kranken Zellen“, antwortet Cavalli, „aber die medikamentöse Behandlung tötet diejenigen Zellen leichter, die sich am schnellsten vermehren. Daher gelingt es, vor allem schnell wachsende Tumore zu heilen. Und deshalb können 80 Prozent der Fälle von Kinderkrebs erfolgreich bekämpft werden.“ Martina Bucciantonio ergänzt: „Es gibt sehr resistente Krebsarten, für welche die Hadronentherapie effizienter und weniger schädlich sein kann als die konventionelle Strahlentherapie.“

„Doch kann sich die teure Hadronentherapie auch kommerziell durchsetzen?“, will eine Schülerin wissen. Physikerin Bucciantonio ist davon überzeugt: „Es gibt einige Unternehmungen, die immer kompaktere und einfacherer Maschinen herstellen. Und diese können gut in bestehende Strukturen eingebaut werden. Sie lassen sich also wesentlich leichter vermarkten.“

Fast zwei Stunden dauerte die Diskussion. Die Schülerinnen und Schüler kehren in ihre Klassenzimmer zurück oder gehen nach Hause. In wenigen Monaten erwartet sie die Maturitätsprüfung. Doch die Diskussion hat ihnen die Möglichkeit gegeben, auch über ihre berufliche Zukunft nachzudenken. Einige werden vielleicht Medizin studieren, andere Physik. Und vielleicht werden sie sich in einigen Jahren wieder treffen, um gemeinsam über eine neue Generation von Behandlungsgeräten für die Hadronentherapie zu diskutieren.

Marco Cagnotti, Übersetzung aus dem Italienischen und Bearbeitung: Gerhard Lob (veröffentlicht 6. 4. 2014)

Die Internetdiskussion (Google-Hangout) vom 20. März 2014 zum selben Thema (Video)

Wir haben die Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Locarno während der Podiumsdebatte vom 4. April 2014 gebeten, die Diskussionsveranstaltung in einem 'Feedback-Buch' zu kommentieren. Hier die Schülerkommentare:

„Physik und Medizin - Die tote Materie hilft den lebendigen Wesen.“

„Es ist sehr interessant für Schüler, die nicht wissen, ob sie Medizin oder Physik studieren sollen. Und die Einheit zwischen Medizin und Physik ist sehr interessant.“

„Endlich können wir verstehen, wie die Dinge angewandt werden, die wir lernen! Die schönste Sache ist es, zwei Bereiche vermischen zu können, nämlich den Bereich der lebendigen Materie mit demjenigen der toten Materie.“

„Vorbeugen ist besser als heilen. Der Physiker ist die Zukunft der Medizin.“

„Für uns ist es sehr interessant, da wir noch unsere ganze akademische Karriere angehen müssen/können.“

„Grundlegend sind die ganzen konkreten Beispiele, die uns gezeigt wurden. So erhält die Theorie eine interessantere Seite. Und wir können den Nutzen der Theorie verstehen.“

„Die Präsentation der Themen könnte verbessert werden. Es hätte interessant sein können, doch hat (diese Veranstaltung) meine Neugierde nicht so richtig geweckt, da die Referenten kaum fähig waren, das Publikum einzubeziehen.“

„Die Einheit (Verquickung) von Medizin und Physik kann zu grossartigen Resultaten führen, wie diese Diskussionsveranstaltung gezeigt hat.“

„Vielleicht wäre es nützlich, mehr auf die Ursachen von Krankheiten zu schauen denn auf die Therapien (z.B. gesunde Ernährung, Umwelt, etc.)“

„Ohne Forschung würde keine Medizin existieren: gerade deshalb bin ich der Meinung, dass die Debatte hier sehr interessant war, zumal wir noch 'junge Köpfe' sind.“

„Es geht hier um theoretisch unterschiedliche Fächer, die sich entwickeln und gemeinsame Ziele haben, um den Menschen zu helfen.“

Die Diskussionsveranstaltung am Gymnasium von Locarno ist Teil einer siebenteiligen Veranstaltungsreihe, bei der jeweils ein Physiker bzw. eine Physikerin mit Vertretern anderer Fachrichtungen über die Relevanz der Physik bzw. der Naturwissenschaften für die aktuelle Gesellschaft diskutiert. Die Veranstaltungsreihe wurde vom Physiker PD Dr. Hans Peter Beck (Universität Bern/CERN) und Prof. Klaus Kirch (ETH Zürich) angestossen. Finanziert wird sie aus dem Agora-Programm für Wissenschaftskommunikation des Schweizerischen Nationalfonds. Um auch ein netzaffines Publikum anzusprechen, werden alle Podiumsdiskussionen in gleicher personeller Besetzung zeitverschoben auch als Internetdiskussion (Hangout On Air) durchgeführt.

  • Die Forscherin Martina Bucciantonio.
  • Der Arzt Franco Cavalli.
  • Die Forscherin Martina Bucciantonio.Bild: B. Vogel1/2
  • Der Arzt Franco Cavalli.Bild: B. Vogel2/2
3. Hangout On Air di fisicadelleparticelle.ch

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