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"Seltsame Gestalten" im Rampenlicht

Eine neue Methode der Neutronenspektrometrie hilft der Wissenschaft und den Anwendungen an Teilchenbeschleunigern

Wenn Protonen oder Ionen mit Zielobjekten oder miteinander kollidieren, erzeugen sie viele neue Teilchen. Einige davon sind erwünscht, andere sind unerwünscht, aber unabhängig davon, ob sie erwünscht sind oder nicht, müssen sie gut verstanden werden. Neutronen, die zu diesen Erzeugnissen gehören, stellen eine besondere Herausforderung dar. Ihre Eigenschaften wie ihre Energie, ihre Richtung und ihre Anzahl sind mühsam zu messen, aber es bringt viele Vorteile für verschiedene Wissenschaftszweige und ihre Anwendungen, wenn man sie gut kennt. Ein neuartiger experimenteller Ansatz auf der Grundlage eines neuen Neutronenspektrometers, der kürzlich von Mitgliedern des Labors für Hochenergiephysik der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Politecnico di Milano und dessen Spin-off-Unternehmen Raylab getestet wurde, liefert vielversprechende Ergebnisse, die sogar noch vielseitiger zu sein scheinen als erwartet.

Der experimentelle Aufbau am Zyklotron
Bild: U. Bern

"Neutronen sind seltsame Gestalten", sagt Saverio Braccini von der Universität Bern. Ihr Verhalten und ihre Eigenschaften hängen stark davon ab, wie sie erzeugt werden; jedes Detail der Kernreaktion, bei der sie entstehen, wie auch die Materialien in der Umgebung haben einen Einfluss auf ihre Energie, Richtung und Anzahl und damit auf die Art und Weise, wie sie mit der Materie interagieren. "Die Lage ist oft so kompliziert, dass sie die meisten Menschen davon abhält, sie zu untersuchen", sagt Braccini. Eine Methode, die den Wissenschaftler:innen zuverlässig sagen würde, mit welcher Art von Neutronen sie es zu tun haben, würde vielen Forschenden das Leben leichter machen. Die gute Nachricht ist, dass es diese Methode und ein entsprechendes Instrument zu geben scheint. Auf der Grundlage eines neuen kompakten Neutronenspektrometers, das von Raylab, einem Spin-off-Unternehmen des Politecnico di Milano in Italien entwickelt wurde, haben Mitglieder von Braccinis Gruppe an der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Politecnico di Milano und Raylab kürzlich einen neuartigen experimentellen Ansatz zur präzisen Bewertung von Neutronenfeldern in einem breiten Energiebereich getestet.

Doch der Reihe nach - warum ist es wichtig, all diese Details über die Neutronen so gut zu kennen? Das ist auch eine Frage der Auswirkungen auf den Menschen. Neutronen machen Dinge radioaktiv, sie stellen eine Gefahr für Menschen dar und verursachen Schäden in Materialien. Wenn man genau weiss, welche radioaktive Dosis sie erzeugen, z. B. als Sekundärteilchen bei der Protonentherapie, kann man die Behandlung auf den Patienten abstimmen; wenn man weiss, welche Schäden sie in Materialien (z. B. Teilchendetektoren) verursachen, kann man die Lebensdauer des Materials richtig einschätzen und möglicherweise verbessern, und wenn man weiss, wie viel Radioaktivität sie in Beschleunigeranlagen erzeugen, kann man die Teile sicher entsorgen, wenn der Beschleuniger ausser Betrieb genommen wird.

Das neue Instrument heisst nicht nur DIAMON ("Direction-aware Isotropic and Active neutron MONitor with spectrometric capabilities"), es hat auch die grobe Form eines geschliffenen Diamanten. Seine auf Halbleitern basierenden Sensoren messen die Neutronenspektren, die Richtungen der Teilchen und die Feldgrössen mit Hilfe eines speziellen Codes in Echtzeit und könnten so die traditionellen komplexen und zeitaufwändigen Methoden der Spektrometer und Flugzeitmessungen ersetzen. Es wurde mit dem medizinischen Zyklotron in Bern bei niedrigen Energien und an der CERF-Anlage ("CERN-EU high-energy Reference Field")am CERN bei hohen Energien getestet. Beide Anlagen stellen Neutronenfelder zur Verfügung, so dass die Daten von DIAMON mit der Referenz und den Simulationen verglichen werden können. Der untersuchte Energiebereich ist so gross, dass er "praktisch zwei Planeten umspannt", wie Braccini es beschreibt.

Diese Vielseitigkeit und Benutzerfreundlichkeit bietet eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten. Ein langfristiges Ziel ist die Erzeugung eines vollständig charakterisierten Neutronenstrahls mit Hilfe eines medizinischen Zyklotrons, der zur Untersuchung von Kernreaktionen und insbesondere zur Herstellung von Radionukliden für Diagnostik und Therapie (Theragnostik) verwendet werden kann. Damit könnten bestimmte Arten von Krebs geheilt werden, die auf andere Weise nicht behandelt werden können. Auch die Teilchenphysik profitiert von kontrollierten Neutronenstrahlen: In einigen besonders harschen Umgebungen müssen die Wissenschaftler:innen sicherstellen, dass ihre empfindlichen Geräte den hohen Strahlungswerten standhalten, denen sie ausgesetzt sind. Die Bestrahlung von Prototypen mit einem gut erforschten Neutronenstrahl kann eine jahrelange Strahlenbelastung simulieren, so dass sich künftige Schäden vorhersagen und abmildern lassen. Dies wäre eine ideale Ergänzung zu den bereits laufenden Strahlenhärteuntersuchungen mit Protonenstrahlen am Berner Medizin-Zyklotron.

Barbara Warmbein

Siehe auch:

Artikel in Scientific Reports Nature: A novel experimental approach to characterize neutron fields at high- and low-energy particle accelerators

Artikel Fabrik für Isotope und Spielwiese für Experimente: Berner Zyklotron verbindet medizinische Anwendungen mit Grundlagenforschung

Das Team der Uni Bern hat das DIAMON-Spektrometer erfolgreich getestet
Das Team der Uni Bern hat das DIAMON-Spektrometer erfolgreich getestetBild: U. Bern

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