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Thomas Scheurer – zwischen Alpen und Nationalpark

Über 30 Jahre hat Thomas Scheurer die Forschung in den Alpen und im Nationalpark mitgeprägt. Er leitete die Geschäftsstellen der Forschungskommission des Nationalparks und der Interakademischen Kommission Alpenforschung. In dieser Zeit habe sich der Umgang der Menschen mit dem Alpenraum verändert, konstatiert Scheurer. Sorge macht ihm, wie sich gewisse touristische Zentren entwickeln.

Thomas Scheurer leitet eine Exkursion im Nationalpark
Bild: Marcel Falk, SCNAT

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Sie haben die Forschung in den Alpen und im Nationalpark in den vergangenen 33 Jahren stark mitgeprägt. Wie kamen Sie dazu?

Im Jahr 1985 nahm ich das Angebot an, mich bei der Koordination und Professionalisierung der Forschungskommission des Nationalparks (FOK) zu beteiligen. Mein Hintergrund in der interdisziplinären Alpenforschung – Diplom und Dissertation schloss ich im Nationalfonds-Projekt «Man and Biosphere Grindelwald» ab – bot eine ideale Grundlage dazu. Dass sich die Akademien auch noch auf die Alpenforschung fokussiert haben, geht auf die Alpenkonvention zurück, welche 1991 von der EU unterzeichnet wurde. Die Akademien der Naturwissenschaften (SCNAT) und der Geisteswissenschaften (SAGW) haben damals begonnen, sich in der Alpenforschung zu engagieren, und ich wurde gefragt, ob ich neben der Nationalparkforschung auch die Alpenforschung übernehmen möchte. Ich empfand es als grosses Privileg, in der FOK und in der Alpenforschung ganz von vorne anfangen zu können und somit die wichtigen Fortschritte mitprägen zu dürfen.

Wie haben sich die Alpen in dieser Zeit verändert?

Die Veränderungen erfolgten in einem Auf und Ab. Ich sehe die Veränderung vor allem bei den Menschen, denn die Kultur im Umgang mit dem Alpenraum hat sich in den 33 Jahren stark verändert. Früher beinhaltete Kultur mehrheitlich das Traditionelle, auch in den Museen. Heutzutage gibt es in den Bergregionen eine grössere kulturelle Vielfalt, wie etwa regionale Kulturinstitute oder -vereine, Festivals, Musik- oder Literaturveranstaltungen. Solche Aktivitäten beeinflussen das Umfeld und vermitteln ein lebendigeres Bild der Menschen im Alpenraum. Die Grundzüge der Alpen haben sich dagegen wenig verändert. Bereits in den 1970er und 80er Jahren gab es bei Verkehr, Abwanderung oder Tourismus problematische Entwicklungen.

Die Alpen galten in der Forschung lange Zeit als ein naturwissenschaftliches Thema. Mit dem «Man and the Biosphere Programme» der Unesco und der Gründung der Alpenkonvention wurde klar, dass eine Vernetzung unabdingbar ist und der Alpenraum nicht nur disziplinär betrachtet werden darf. Dies haben die SCNAT und die SAGW gemeinsam aufgegriffen – mit Erfolg. Die in den Akademien der Wissenschaften Schweiz organsierte Alpenforschung (national: ICAS, alpenweit: ISCAR) hatte damals begonnen, interdisziplinär zu arbeiten. In den 1990er Jahren kam es zu einem ersten Hype, wodurch sich viele Leute für die Alpenforschung motivieren konnten. Zehn Jahre später änderte sich die Lage. Die Berggebiete wurden von der Politik als Teil des ländlichen Raums gesehen und das Alpenspezifische verlor an Bedeutung. Beispielsweise führte dies zu einer beträchtlichen Mittelkürzung für das Alpine Museum in Bern, was noch in den 1990er Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

Können Sie Innovationen für die Berggebiete aufzeigen?

Zurzeit stehen sich zwei gegenläufige Prozesse gegenüber, bei welchen Innovationsprozesse gefragt sind. Auf der einen Seite sind dies die Schrumpfungsprozesse in Gebieten, die von Abwanderung oder rückläufiger Bevölkerung betroffen sind. Daher sind heute in solchen Gebieten vor allem soziale Innovationen gegen die Abwanderung gefragt. Die Berggebiete müssen wieder kreativ werden und eine Umgebung schaffen, die Leute anzieht. Es braucht einen Gegentrend von neu zugezogenen Menschen, durch welche Innovationen entstehen können. Diese Leute nennt man auch New Highlanders. Es handelt sich dabei um Zuwanderer, die in die Berge ziehen und dort mit ihrem Knowhow und ihren Netzwerken aktiv werden.

Andererseits gibt es die Entwicklung der touristischen Zentren und Regionen, die meiner Meinung nach zu entgleisen droht. Heutzutage entscheiden mehrheitlich Tourismuspromotoren über die Einheimischen. An diesem Punkt braucht es ein Umdenken. Die bisher verfolgten Geschäftsmodelle werden zukünftig nicht mehr funktionieren. Es braucht nun einen Schritt zu mehr Mitbestimmung und Eigenverantwortung der Einheimischen. Tourismus ist mehr als nur Ökonomie – Gesellschaft und Kultur sind ebenso wesentlich.

Sie haben viel Innovatives gefördert, wie etwa die künstlichen Hochwasser am Spöl im Schweizerischen Nationalpark. Wie wurden solche Projekte möglich?

Bei meiner ersten Beschäftigung mit dem Nationalpark wurde mir klar, dass es intensivere Langzeitforschungen braucht und dass man sich mehr um die Auswirkungen der externen Einflüsse auf die Umwelt im Park kümmern muss. Der Spöl (Restwasserfluss) wurde bis dahin von der Forschung ausgeblendet. Da die Engadiner Kraftwerke 1990 eine technische Spülung vornehmen mussten und dabei Funktionskontrollen für einen Funktionsablass notwendig waren, ergab sich für mich und die FOK die Möglichkeit, die Auswirkungen von Hochwasser zu erforschen.

Mit einigen Forschungsgruppen haben wir im Rahmen eines langfristigen Forschungsprojekts die Wirkung von künstlichen Hochwassern auf die Ökologie des Spöls näher untersucht und konnten zeigen, dass künstliche Hochwasser den ökologischen Zustand des Gewässers nachhaltig verbessern, wenn solche regelmässig durchgeführt werden. Nach 10 Jahren, im Jahr 2000, konnten wir dann schlussendlich ein Konzept Hochwasser vorlegen, welches vom Bund und der Bündner Regierung genehmigt wurde. Das war der Durchbruch, und die FOK erhielt die Genehmigung für künstliche Hochwasser, die bis heute gemeinsam mit dem Nationalpark, dem Kanton und den Engadiner Kraftwerken durchgeführt werden. Der Spöl ist heute weltweit einzigartig, weil er bislang der einzige Restwasserfluss mit jährlichen künstlichen Hochwassern ist, was das grosse wissenschaftliche Interesse an diesem Langzeitexperiment erklärt.

Bei welchen Veränderungen im Nationalpark haben Forschungsarbeiten eine wichtige Rolle gespielt?

Die vorhin erwähnten Forschungsarbeiten beim Spöl waren die Grundlage für die Dynamisierung des Restwassermanagements. Aber es gab auch andere Forschungsprojekte, wie zum Beispiel ein Projekt zu Hirschbeständen. Man hatte in den 1960er Jahre begonnen, Hirsche zu markieren um ihre Wanderungen zu erkennen, was schliesslich zu einer Anpassung der Jagdpraxis führte. Zudem wurde das Verhalten von Touristen im Nationalpark genauer analysiert. Mithilfe dieser Daten gelang es, das Besuchermanagement auf eine gute Basis zu stellen. Auch bei Vegetationsaufnahmen früher und heute haben Forschungsteams mitgewirkt. Man hat dadurch erkannt, dass sich mit dem Auftreten der Huftiere die Artengarnitur innerhalb von 100 Jahren komplett ausgewechselt hat und die Artenvielfalt vielerorts zugenommen hat, womit Wildtiere heute als Förderer der Biodiversität im Park gelten. Der Aufgabenbereich der Nationalparkforschung hat sich in den letzten Jahren ausgeweitet. Heute koordiniert die FOK die Forschung im gesamten Unesco-Biosphärenreservat Engadin Val Müstair.

Wie hat der Klimawandel die Berglandschaft beeinflusst? Was sind mögliche Massnahmen?

Im Nationalpark wurde Ähnliches festgestellt wie in anderen Regionen. Es gibt Untersuchungen, Zeitreihen und Fakten, wie beispielsweise die Daten zum Anstieg der durchschnittlichen Jahrestemperatur von –0,5 Grad (1914) auf +1 Grad (heute). Auch hatte man beobachtet, dass eine Schneckenart gegenüber 1917 heute durchschnittlich 200 Meter höher vorkommt. Bei der Gipfelflora ist bei einigen Gipfeln eine starke Artenzunahme festgestellt worden. Im Nationalpark gibt es keine Massnahmen gegen den Klimawandel, sondern nur Feststellungen, denn der Nationalpark ist ein natürliches Referenzgebiet.

Im Alpenraum besteht das Hauptproblem, dass die Wirtschaft und die Siedlung in einer Zeit entstanden sind, in der man den Klimawandel noch nicht thematisiert hat. Touristenorte gingen bei der Entstehung davon aus, dass es immer Schnee geben wird. Auch Hochwasser oder Murgänge hatte man in dieser Form, wie sie in den letzten Jahren durch den Klimawandel auftraten, nie für möglich gehalten. Die neuzeitliche Entwicklung hat Verhältnisse geschaffen, die mit den heutigen Naturprozessen nicht mehr korrelieren. Als Massnahme kann man hier in die Sicherung beziehungsweise den Schutz investieren oder Umsiedelungsprozesse vornehmen – beides kommt uns aber teuer zu stehen.

Wie sieht die internationale Zusammenarbeit hinsichtlich der Alpenforschung aktuell und in Zukunft aus?

Neben der ISCAR, die sich vor allem mit der internationalen Forschungsarbeit beschäftigt und alle zwei Jahre mit ausländischen Partnern das «AlpenForum» bzw. die «AlpenWoche» organisiert, gibt es in der Schweiz zwei weitere internationale Sekretariate zur globalen Koordination in der Gebirgsforschung. Zum einen ist dies die Mountain Research Initiative mit Schwerpunkt nachhaltige Entwicklung, und zum anderen das Global Biodiversity Assessment mit Schwerpunkt Biodiversität. Ein weiterer Bereich deckt die Alpenkonvention der Alpenstaaten ab. Diese kooperiert alpenweit mit den relevanten Akteuren. Die Alpenkonvention wird ergänzt durch die Makroregion Alpenraum der EU. Die Makroregion spielt in Form von grenzüberschreitenden Netzwerken eine wichtige Rolle für die europäische Zusammenarbeit. Zudem gibt es das Alpenraumprogramm der EU, in welchem grosse, grenzübergreifende Projekte zum Alpenraum gefördert werden. Dieses bringt Akteure aus verschiedenen thematischen Sektoren und politischen Handlungsebenen aus den acht Alpenstaaten zusammen.

Für die Zukunft sehe ich vermehrt eine Schnittstelle zwischen der Gesellschaft und den Ressourcen. Zukünftig wird es vermehrt um Aushandlungsprozesse gehen, um absehbare neue Konflikte aufgrund des Klimawandels oder der industriellen Nahrungsmittelproduktion zu moderieren, beispielsweise in der Wassernutzung oder beim Pestizideinsatz. Es stellt sich die Frage, wie Konfliktsituationen gelöst, die sozio-ökologische Resilienz verbessert und das nötige Wissen an die nächste Generation weitergegeben werden kann.

Ein Abschied ist immer der Zeitpunkt für einen Rück- und Ausblick. Welche Erfolge sind für Sie die wichtigsten? Was hätten Sie gerne noch gemacht und wie soll sich Ihrer Meinung nach die Alpenforschung entwickeln?

Ich habe unter den gegebenen Umständen mit den verfügbaren Ressourcen versucht, das Wichtigste in Bewegung zu setzen. Teilweise entstanden daraus längerfristige Projekte wie das «AlpenForum» und die «AlpenWoche», die heute durch alle Alpenstaaten rotieren. Auch das Restwassermanagement am Spöl hat mich sehr gefreut. Zudem war die ICAS-Nachwuchsforschertagung «Phil.Alp» mit tollen Präsentationen junger Forschenden immer wieder ein Höhepunkt. Erfreulicherweise ist es gelungen, im Alpenraum eine Brücke zwischen Forschung (ISCAR) und Schutzgebieten (Netzwerk Alpiner Schutzgebiete) zu schlagen und so die Schutzgebietsforschung im Alpenraum zu etablieren.

Ich habe mich lange für die Alpen- und Nationalparkforschung eingesetzt und mitgeholfen, diese in den Akademien der Wissenschaften Schweiz zu verankern. Nun übergebe ich die Forschung an meine Nachfolger. Es liegt an ihnen, Relevantes weiterzuführen und neue Ideen einzubringen. Wichtig ist mir nur, dass Themen wie die Alpenforschung und die Schutzgebietsforschung weiterhin in den Akademien der Wissenschaften Schweiz anerkannt und aktuell bleiben. Das neue Forum Landschaft, Alpen, Pärke (FoLAP) ist gut aufgestellt, um auch die zukünftigen Fragen aktuell zu halten.

Interview: Annina Marti, Akademien der Wissenschaften Schweiz

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