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NZZ am Sonntag: So verschwenden die Unis Talente

Erschienen in NZZ am Sonntag vom 3. Dez 2017, von Patrick Imhasly

An der ETH Zürich musste das Institut für Astronomie schliessen, weil eine Professorin ihre Doktoranden schikanierte. Der Fall ist krass, doch das Wissenschaftssystem der Schweiz hat grundsätzliche Probleme: gestresste Doktoranden, Heerscharen hochqualifizierter Forscher, die niemand braucht, und selbstherrliche Professoren.

Marcel Tanner, Ordinarius für Epidemiologie und medizinische Parasitologie an der Universität Basel, war von 1997 bis 2015 Direktor des Swiss Tropical and Public Health Institute (Swiss TPH) in Basel. 1981 bis 1984 leitete er die Aussenstation des Swiss TPH in Ifakara, Tansania (heute: Ifakara Health Institute). Er trägt zwei Ehrendoktortitel der Universität Neuenburg und der Universität Brisbane. Seit 2016 präsidiert Tanner die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz.
Bild: Valérie Chételat

Der Fall hat hohe Wellen geworfen. Weil eine Professorin an der ETH Zürich während Jahren ihre Dok­toranden schikanierte, sah sich die Schulleitung gezwungen, das Institut für Astronomie im August aufzulösen und die Doktoranden anderen Professoren zuzuteilen. Selbst im renommierten Fachblatt «Science» entbrannte darauf eine Diskussion darüber, wo die gesunde Leistungskultur an einer Universität aufhört und unmenschlicher Karrieredruck anfängt. So spektakulär dieser Fall an der ETH ist, letztlich handelt es sich dabei um einen Auswuchs dessen, was hinter der glänzenden Fassade des Schweizer Hochschulsystems seit längerem weit verbreitet ist: Gestresste Doktoranden, Heerscharen von hochqualifizierten Forschern, die niemand braucht, selbstherrliche Professoren und eine Glorifizierung des Kompeti­tions­gedankens.

Keine Frage, die Schweizer Universitäten haben immer noch einen hervorragenden Ruf und ziehen die besten Forscher und ­hoffnungsvollsten Talente weltweit an. Sie bieten Wissenschaftern eine erstklassige Infrastruktur, rüsten Professoren grosszügig mit frei verfügbaren Mitteln für ihre Forschung aus, widmen sich selbst abgelegenen, aber relevanten Themen wie dem Städtebau in Asien, halten die Grundlagenforschung hoch und die bürokratischen Vorgaben im Vergleich zur Forschungsförderung in der EU auf erträglichem Niveau. Und doch brodelt es im Mittelbau: unter den Doktoranden, den Postdocs – den temporär angestellten wissenschaftlichen Mitarbeitern mit Doktortitel – und den Assistenzprofessoren.

Kein Platz für die vielen Forscher

«Es ist ein Privileg, an einer Schweizer Universität arbeiten zu können, doch wir bilden viel zu viele Doktoranden aus – das System kann diese Forscher gar nicht aufnehmen», sagt eine Wissenschafterin, die anonym bleiben möchte. Sie hat eine jener festen Mittelbaustellen inne, die an den hiesigen Hochschulen äusserst rar sind. «Die Doktoranden arbeiten während vier bis fünf Jahren wie die Verrückten. Kaum haben sie den Doktortitel, stellen sie fest, dass es an unseren Univer­sitäten keinen Platz für sie hat.» Für die Bedürfnisse in der Industrie sind sie nicht selten falsch qualifiziert oder überquali­fiziert und müssen dort Jobs annehmen, für die ein Masterabschluss ausreicht. Die Doktoranden betreiben Forschung, halten die Labors am Laufen und führen Kurse für die Studenten durch: «Ohne dieses Heer billiger Arbeitskräfte könnten die Hochschulen in der Schweiz gar nicht funktionieren», sagt die Forscherin. Sie verstehe, dass die Universitäten nur schon aus ökonomischen Gründen auf diese Arbeitskräfte angewiesen seien, «aber es ist eine grosse Lüge, den Leuten zu sagen: ‹Mit einem Doktortitel findet ihr auf jeden Fall einen guten Job.›»

Als noch prekärer bewertet sie die Situation der Postdocs an den Schweizer Universitäten, die oft aus dem Ausland rekrutiert werden. «Da wird wissenschaftliche Arbeitskraft eingekauft, die dem System nützt. Die Wahrheit aber ist, dass die wenigsten von ihnen eine Chance haben, zu bleiben – kaum sind sie da, müssen sie schon wieder gehen.» Trotz der qualitativ hochwertigen Forschung sei die Erfahrung in der Schweiz für viele junge Wissenschafter am Ende enttäuschend. «Ich habe in diesem System überlebt, treffe aber immer wieder Forscherinnen und Forscher, die leiden oder soziale Probleme haben.»

Als «überarbeitet und gestresst», erlebt auch der britische Biochemiker Marc Creus von der Universität Basel viele Forscher aus dem Mittelbau. Seine Stelle als Leiter der experimentellen Labors eines Bioinformatikprofessors ist befristet, was er trotzdem als «relativ komfortable Situation» empfindet. Denn noch hat er die Hoffnung nicht auf­gegeben, es selbst eines Tages auf eine Professur zu schaffen. Der Druck, möglichst viele wissenschaftliche Publikationen zu produzieren, sei enorm. «Junge Männer ohne grosse soziale Bindungen werden bevorteilt», sagt Creus. «Forscher mit Familien, vor allem Frauen, und alle, die Teilzeit arbeiten wollen, haben es besonders schwierig.» Das führe im Verlauf der wissenschaftlichen Karriere zu einer konservativen Kultur, die von älteren Männern dominiert werde. Ausserdem herrscht eine ausprägte «The winner takes it all»-Mentalität: «Wer eine Professur erreicht hat, der hat Macht und Ressourcen.» Weiter unten in der pyramidalen akademischen Struktur sieht es anders aus: «Was für eine Verschwendung von Talent, wenn jemand zwei Postdocs absolviert hat, in seinem Fachgebiet hochspezialisiert ist und feststellen muss, dass er keine Chance hat», sagt Marc Creus.

Dialog wird nicht belohnt

Der Umgang mit Jobunsicherheit und eine unausgewogene Work-Life-Balance sind das eine, Wissenschafter im Mittelbau der Universitäten haben auch damit zu kämpfen, dass sie Aufgaben verrichten müssen, für die sie nicht ausgebildet wurden. An manch einer Universität ist es zum Beispiel gang und gäbe, dass man den Verwaltungsaufwand niedrig hält, indem man die Studienberatung den Postdocs überlässt. Hinzu kommt, dass im akademischen Milieu die Erfüllung jener Aufgaben kaum belohnt wird, welche die Gesellschaft mit einem gewissen Recht von einem staatlich besoldeten Wissenschafter erwartet: Kommunikation und Dialog. «Mit einem Journalisten zu reden und ihm meine Arbeit zu erklären oder eine Schule zu besuchen, ist spannend – aber es frisst Zeit, die mir bei meiner Forschung fehlt», erklärt Marc Creus. Das Wissenschaftssystem bestraft solche Anstrengungen eher noch. Als sich vor ein paar Jahren dreissig junge Chemiker zu einem Gedankenaustausch in Bern trafen, riet ihnen der Genfer Biochemieprofessor Howard Riezman laut einem Bericht im Fachblatt «Chimia», nicht zu viel Zeit für Aktivitäten ausserhalb der Forschungsarbeit aufzuwenden – wer sich eine Reputation als Wissenschafter aufbauen wolle, solle seine Energie besser in die Erarbeitung von Publikationen stecken.

«Alle reden darüber, wie wichtig die Kommunikation über die Grenzen des eigenen Fachgebietes hinaus ist, aber wenn man sich darum bemüht, wird das wenig geschätzt», erklärt die amerikanische Biologin Adria LeBoeuf. In ihrem ersten Postdoc an der ­Universität Lausanne erforschte sie die Evolution des Sozialverhaltens von Ameisen. Gleichzeitig gründete sie mit andern zusammen das Theaterprojekt «The Catalyst», das wissenschaftliche Inhalte mit den Ausdrucksmitteln der Kunst verbindet und zum Beispiel Science-Slams organisiert. Während ihre wissenschaftlichen Publikationen internationale Beachtung fanden, wurde das Theaterprojekt an der Universität Lausanne kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt versucht sie, mit einem weiteren Postdoc am Weizmann-Institut in Israel ihre wissenschaftliche Karriere in Schwung zu bringen.

Inzwischen wehren sich immer mehr junge Forscher gegen die falschen Anreize in der Welt der Wissenschaft. Anfang dieses Jahres haben sich 200 von ihnen in Bern getroffen, um über die Missstände zu diskutieren. Ein paar, unter ihnen Adria LeBoeuf, haben im Nachgang in einem Paper Ideen entwickelt, wie die Berufsaussichten von Doktoranden verbessert werden könnten. So schlagen sie zum Beispiel vor, dass man Doktoranden an den Universitäten nicht nur wissenschaftlich ausbildet, sondern auch Fähigkeiten gefördert werden, die in der Industrie gefragt sind, wie etwa das Projektmanagement. Praktika ausserhalb der Unis sollen die Wissenschafter zusätzlich fit für den Arbeitsmarkt machen.

Das neue Benchmark-Denken

«Die Spannungen an den Universitäten haben auch mit dem Wandel der Wissenschaftskultur zu tun», erklärt Stéphanie Girardclos. Die Erdwissenschafterin forscht und lehrt als festangestellte Maître d’enseignement et de recherche an der Univer­sität Genf. Früher seien die Hochschulen Horte des reinen Wissens gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg seien sie zu Fabriken geworden, in denen sozusagen nach industriellen Massstäben mess- und anwendbares Wissen produziert worden sei. «Heute sind die Universitäten zusätzlich vom Benchmark-Denken der Finanzwelt beherrscht», so die Forscherin. «Die Leute an den Hochschulen sind verunsichert und wissen nicht mehr, wofür sie mit ihrer Arbeit stehen.»

Marcel Tanner, Präsident der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) ist überzeugt, dass «drei Freuden zu einer Forschung führen, die der Gesellschaft verpflichtet ist: die Freude, zu entdecken, die Freude über die Lehre oder den Kontakt mit der Öffentlichkeit zu teilen, sowie die Freude, Erforschtes und Validiertes auch umzusetzen.» Leider gehe dieses Denken heute verloren, sagt Tanner. Der ehemalige Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Instituts in Basel macht für diese Entwicklung vor allem mangelndes Mentoring durch die Professoren verantwortlich. «Statt engagierten Nachwuchs auszubilden, schnitzen zu viele Professoren lieber an ihrem eigenen Monument – das ist eine schlimme Attitüde.» Etablierte Forscher und insbesondere die Inhaber von Lehrstühlen nähmen sich oft zu wichtig und hätten zu viel Macht. «Dabei ist die Förderung des Nachwuchses der wohl wichtigste Indikator für gute Forschung.» Ausdruck dieser Misere sind auch die strukturellen Bedingungen: Wenn an der ETH Zürich 1962 auf eine Professor zwei Assistenten kamen, lag dieses Verhältnis im Jahr 2014 bei eins zu vierzehn.

Marcel Tanner stört sich zudem an einer Verklärung des Wettbewerbsgedankens an den Universitäten: «Setzt ein Professor zwei Postdocs auf das gleiche Problem an, nur um zu schauen, wer ihm die bessere Lösung liefert, dann kann man nur sagen: Das ist ein dummer Auswuchs.» Die Dozenten hätten ein Coaching dringender nötig als die Doktoranden. «Die Probleme an den Schweizer Hochschulen sind inzwischen gross. Wenn wir so weitermachen wie bisher, zerfällt das, was wir gewonnen haben», sagt der Basler Epidemiologe.

Doch wie lässt sich die Situation des Mittelbaus in der Schweiz nachhaltig verbessern? «Es braucht mehr und kleinere Professuren. Das verbessert das Betreuungsverhältnis für die Doktoranden und verschafft dem Mittelbau Perspektiven», sagt der Historiker Caspar Hirschi von der Universität St.Gallen, der sich seit Jahren mit der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses beschäftigt. In keinem Land der Welt werden bezogen auf die Bevölkerung so viele Doktoranden ausgebildet wie in der Schweiz. Hirschi plädiert deshalb auch dafür, die Zahl der Doktoranden an den hiesigen Universitäten massiv zu verringern: «Wir sollten weniger Leute promovieren und gleich nach der ­Promotion härter selektionieren. So geben wir denen, die an der Uni bleiben, eine echte Karrierechance.»

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