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Im Herz von CERN

Reportage

Anfang Juni 2013 reisten 18 Lehrerinnen und Lehrer aus der Deutschschweiz nach Genf. Der Weiterbildungstag am CERN vermittelte ihnen Anschauungsmaterial und Experimente, um Hochenergiephysik zu unterrichten.

Im Herz von CERN

„Das ist eine einmalige Gelegenheit, den Detektor zu besichtigen!“, erkannten acht Physiklehrer der Kantonschule Zug, als ihr Kollege Markus Schmidinger ihnen von seiner Einladung ans CERN erzählte. Schmidinger hatte an einer Fortbildung zu Teilchenphysik in Bern teilgenommen und war zur Folgeveranstaltung ans CERN nach Genf eingeladen worden. Höflich fragte er an, ob seine Kollegen wohl mitkommen dürften? Initiator Hans Peter Beck, Physiker am CERN und Dozent der Uni Bern, überlegte nicht lange. Er konzipierte sein Programm so um, dass es auch ohne Vorbildung verständlich war. Insgesamt nahmen18 Lehrerinnen und Lehrer aus der Kantonsschule Ausserschwyz, dem Gymnasium Oberaargau, dem Gymnasium Rämibühl in Zürich und dem Gymnasium Biel die Chance wahr, das CERN von innen kennen zu lernen. Um trotz längerer Anreise einen vollen Tag am CERN zu erleben, waren sie bereits am Tag zuvor angereist und konnten kostenlos im CERN-Hostel übernachten.

Es gehört zum Verständnis des Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (kurz CERN) die Schulbildung zu unterstützen. „Wir möchten, dass moderne Physik in die Schulen Einzug findet und der Unterricht nicht bei der schiefen Ebene aufhört“, erklärt Hans Peter Beck. Aus aller Welt kommen Lehrkräfte ans CERN um sich dort tage- und wochenlang fortzubilden oder gemeinsam mit ihren Schülern eines der faszinierendsten Forschungszentren der Welt kennen zu lernen. Es gibt nur wenige Länder in Europa, die noch keine Lehrergruppe ans CERN geschickt haben. Eines davon ist ausgerechnet die Schweiz. Gilt der Prophet nichts im eigenen Land? Wie ist es zu erklären, dass an einem Samstag im Juni 2013 das allererste Programm für Deutsch-Schweizer Lehrerinnen und Lehrer am CERN stattfindet? Hans Peter Beck, der sich seit langem im Rahmen der Masterclasses für die schulische Bildung engagiert, glaubt nicht an Desinteresse: „Das Schulsystem in der Schweiz ist dezentral organisiert. Viele Lehrer wissen gar nicht, welche Möglichkeiten ihnen das CERN bietet“, erklärt er dem CERN-Koordinator für Bildung Mick Storr, wenn der wieder fragt, wo die Lehrer aus der Schweiz bleiben.

Welcome to the Startrek Enterprise

Nun sind sie endlich gekommen und Hans Peter Beck hat keine Mühe gescheut, um ihnen den Tag so interessant wie möglich zu gestalten. „Unabdingbar: Geschlossene Schuhe und keine hohen Absätze“, hat er zu fast jedem Programmpunkt vermerkt, denn heute gehen sie dort hin, wo gearbeitet wird. Gerade wird der Large Hadron Collider (LHC) und seine Experimente gewartet, umgebaut und hochgerüstet, um 2015 mit mehr Leistungsfähigkeit wieder in Betrieb genommen zu werden. Da der normale Betrieb dabei ruht, besteht am CERN gerade die seltene Gelegenheit, in die Kavernen zu fahren und die Experimente direkt vor Ort zu besichtigen. „Ihr dürft alles fotografieren was ihr heute seht. Am CERN wird keine geheime Forschung gemacht, wir veröffentlichen alles“, erklärt Hans Peter Beck seinen Besuchern. Mit Smartpad, Film- und Fotokameras sind sie gut ausgestattet, um Eindrücke für ihre Kollegen und Schüler einzufangen.

Nach der kurzen Einführung durch Hans Peter Beck geht es direkt ins Herz von CERN, den LINAC2. Hier werden die Protonen bereitgestellt, die sie im Large Hadron Collider aufeinander schiessen. „Welcome to the Startrek Enterprise“, scherzt Mick Storr, als wir den Vorraum zur Protonenquelle betreten. Er erstrahlt im Design der 70er Jahre, und das ist kein Retro, sondern Original. Fehlt nur noch, dass Captain Kirk um die Ecke kommt. Mick Storr weiss, wie er seinen Besuchern die Scheu vor der High-End-Physik nehmen kann. Doch was vielleicht noch viel wichtiger ist, er schätzt sehr, was die Lehrer in den Schulen leisten: „Die physikalischen Grundlagen, die Sie an Ihren Schulen vermitteln, sind die Grundlage von allem, was hier im CERN passiert“, sagt Mick Storr und lädt seine Zuhörer ein, das, was sie heute sehen, auch einmal mit ihren Schülern zu besichtigen. Einer der jetzt schon leuchtende Augen hat, ist Philipp Aregger von der Kantonschule Zug. Er unterrichtet seine Schüler bereits in moderner Physik und findet hier gute Anregungen, ihnen zu helfen, die komplexe Materie der Teilchenphysik zu verstehen.

Zweite Station ist das ATLAS Experiment, in dem Hans Peter Beck forscht. Da das Experiment am Wochenende nicht besucht werden kann, nimmt sie ein 3D-Film die Lehrkräfte mit ins Innere des ATLAS-Detektors. 3000 Physiker sind daran beteiligt.

Wer zappelt fliegt raus

Mit dem Bus geht es zur nächsten Station, dem LHCb-Experiment. „Sie haben ein Riesenglück, dass Sie direkt in den Detektor reingehen können! Das hab ich selbst seit zehn Jahren nicht mehr gemacht“, begrüsst Andreas Schopper seine Besucher. Der Physiker am CERN hat das LHCb Experiment mit aufgebaut und ist Präsident der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft (SPG). Sie hat die Reisekosten für die Lehrer ans CERN übernommen. Bevor ein Fahrstuhl die Reisegruppe 100 Meter ins Erdinnere befördert, erklärt Schopper an einem Modell, was das Besondere am LHCb ist. 700 Wissenschaftler aus 61 Institutionen und 16 Ländern forschen dort nach den Unterschieden zwischen Materie und Antimaterie. Aus der Schweiz sind die ETH Lausanne und die Universität Zürich am Experiment beteiligt. Und auch wenn der LHCb ein wenig im Schatten der grossen Experimente ATLAS und CMS steht, hat er doch einige spektakuläre Ergebnisse zu Tage gefördert. So untersuchten die Forscher erstmals den Zerfall eines weiteren Teilchens, dessen Messung abermals beweist, dass Materie und Antimaterie nicht exakt symmetrisch sind.

„Wer zappelt, fliegt raus!“. Diese Devise gilt heute für Lehrer, die in den LHCb eingeschleust werden. Schopper hat Token für die Besucher mitgebracht, mit denen sie identifiziert werden. Dann heisst es, reglos in der Schleuse zu stehen und die Kamera an den Körper zu pressen, damit das Kontrollsystem nicht auf die Idee kommt, es handele sich um zwei Personen. Schopper unterzieht seine Augen einem Retina-Scan. Wir fühlen uns ein bisschen an den Thriller Illuminati erinnert, in dem ein böser Geheimbund einen Physiker ermordet und sich mit seinem Auge Zutritt ins CERN verschafft.

Nach einer überraschend zügigen Fahrt in 100 Meter Tiefe wartet die nächste Schleuse. Radioaktivität, vor der auf der Tür gewarnt wird, herrscht zur Zeit des Shutdowns hier unten zwar nicht. Trotzdem hat Schopper ein Dosimeter dabei, da es sich um eine kontrollierte Zone handelt, für die bestimmte Sicherheitsvorkehrungen gelten. Langweilig wird es den Physikern während des Shutdowns übrigens trotzdem nicht, denn es gibt noch riesige Datenmengen, die auf ihre Auswertung warten, wie Markus Joos erklärt. Der Informatiker arbeitet an der Software, die die Messergebnisse aufzeichnet, filtert und speichert. 100 Petabyte Rohdaten sind auf 40.000 Festplatten und 40.000 Bandkassetten gespeichert. Bandkassetten? Tatsächlich setzten die Informatiker am CERN auf diese vermeintlich veralteten Speichermedien, da sie die Daten 100 Mal sicherer aufbewahren als eine Festplatte.

Entsetzlich schwer zu bauen

„Fast so schnell wie die Protonen im Teilchenbeschleuniger“, scherzt Monica Vogel vom Gymnasium Rämibühl über das Tempo, mit dem wir die einzelnen Stationen des Fortbildungstages absolvieren. Kaum haben wir unser Mittagsessen im CERN Restaurant beendet, geht es auch schon weiter zur Magnettesthalle. Wochentags muss man hier aufpassen, keinem Gabelstapler im Weg zu stehen, doch heute, an einem Samstag, sind wir es, die die riesige Halle mit Leben erfüllen. Anhand einiger Modelle erklärt Gerfried Wiener von der Universität Wien, wie der LHC gebaut wurde und welche Hürden dabei zu bewältigen waren. Allein die Kabel! 13000 Ampere laufen durch den LHC hindurch. Gäbe es keine Supraleitungen müsste der LHC den Umfang des Äquators haben. „Das hört sich alles so leicht an, aber es ist entsetzlich schwierig, so einen LHC zu bauen“, bemerkt Paul Truttman von der Kantonschule Zug und schaut sich bewundernd um.

Unsere vorletzte Station ist der Kontrollraum des Alpha Magnetic Spectrometer (AMS2). Der schüttelsichere Detektor wurde 16 Jahre lang gebaut und getestet, mit dem letzten Spaceshuttle zur Internationalen Raumstation (ISS) geschossen und von NASA Astronauten auf der ISS installiert. Dort jagt er nach Antimaterie. Wenigstens ein einziges Anti-Helium. Noch besser zwei. Zehn, um ein Paper zu veröffentlichen. Die Wissenschaftler gehen nämlich davon aus, dass beim Urknall riesige Mengen von Materie und Anti-Materie freigesetzt wurden, um sich sogleich wieder gegenseitig zu zerstören. Nach dieser Theorie dürfte es keine stabile Antimaterie in unserem Universum geben – es sei denn, AMS2 lieferte den Gegenbeweis. Bislang hat AMS2 noch keine Antimaterie dingfest gemacht. Dafür fanden Wissenschaftler signifikante Hinweise auf unbekannte Quellen kosmischer Strahlung, die beantworten könnten, was es mit der dunklen Materie auf sich hat.

Der nächste Einstein

Doch man braucht gar nicht ins All oder ans CERN reisen, um Teilchen zu sehen. Wie sie ihren Schülern Elektronen und Alphateilchen in einem Experiment zeigen können, erfahren die Lehrer am Nachmittag beim Bau einer Nebelkammer. Rasch ist klar, hier sind Profis am Werk. In Windeseile haben sie die Nebelkammern fachgerecht aufgebaut und die Gardinen zugezogen. Dann lauern sie auf Teilchen, die sich im Licht der Taschenlampe zeigen. „Joh, jetzt seh' ich eins“, ruft einer. „Was für ein dicker Brummer!“, stellt ein anderer fest. Kleine wurmförmige Partikel bewegen sich horizontal und vertikal durch den Lichtstrahl. Das einfache wie eindrückliche Experiment lässt sich sogar mit Plastikbecher und Alu-Aschenbecher durchführen. Trockeneis ist allerdings unentbehrlich.

„Wer wird der nächste Newton oder Einstein?“, will Mick Storr wissen, als die Gardinen wieder aufgezogen sind und sich glückliche Lehrer über das gelungene Experiment freuen. „Den gibt es noch nicht“, murmelt einer. „Richtig“, sagt Mick Storr, „der nächste Einstein kommt vermutlich aus der Generation Ihrer Schüler“. Deshalb sollen sie alles dafür tun, dass ihre Schüler neugierig bleiben. Und sie ans CERN bringen. „Ich kann mir gut vorstellen mit einer Schwerpunktklasse Physik das CERN zu besuchen“, meint Gian Röthlisberger vom Gymnasium Oberaargau. Ein Kollege stimmt ihm zu. Sie seien immer auf der Suche nach guten Orten, zu denen sie eine Exkursion machen können.

„Natürlich können wir Schülern an einem Tag keine Teilchenphysik beibringen“, räumt Andreas Schopper ein. „Aber wir können ihnen das Erlebnis CERN vermitteln. Wir können ihnen zeigen, was für vielfältige und abwechslungsreiche Tätigkeiten CERN bietet“. Das Angebot gilt auch für Lehrer, die keine Physik unterrichten. „Um eine Sprache zu lernen, braucht es viel Praxis. Ein Besuch am CERN lässt sich daher gut in den Französisch- oder Englischunterricht einbinden“, regt Hans Peter Beck an. Erfahrungen gibt es bereits. Der Französischlehrer Patrick Blum vom Gymnasium Bern-Neufeld war 2012 mit seiner Klasse am CERN und hat auf teilchenpysik.ch darüber berichtet.

Die Lehrer sind von ihrem abwechslungsreichen Tag am CERN sichtlich begeistert. Als „sehr eindrücklich“, beurteilt Markus Schmidinger den Tag am CERN: „Es ist etwas anderes, wenn man das Experiment vor Ort sieht und Zutritt zu einer Welt erhält, die einem sonst verborgen bleibt“. Er nimmt viele Anregungen mit nach Hause, die er gleich umsetzen will: „Zum Beispiel bei der Lorentzkraft im Unterricht zeigen, dass es keine blosse Theorie ist, sondern Ingenieure am CERN damit arbeiten.“

Während die ersten abreisen müssen, trifft sich ein harter Kern zum Abschiedsgetränk im CERN-Restaurant. Sie nutzen die Gelegenheit, mit Wissenschaftlern zu plaudern und zu erfahren, wie es eigentlich ist, am CERN zu forschen. Wie können Menschen aus 65 Nationen zusammen arbeiten, ohne dass einer dem anderen sagt, was er zu tun hat? Und wie ist es möglich, dass jeder tut was er will und trotzdem keine Anarchie ausbricht? Andreas Schopper hat Antworten auf diese Fragen. „Das ist eine von meinen zwei besten Weiterbildungen gewesen und ich bin schon 17 Jahre Lehrer“, sagt Philipp Aregger zum Abschied. So viel ist klar: Das erste Deutschschweizer Lehrerprogramm am CERN wird nicht das letzte sein.

Das von PD Dr. Hans Peter Beck (Universität Bern/CERN) initiierte 1. Deutschschweizer Lehrerprogramm am CERN wurde ermöglicht durch die fachliche und finanzielle Unterstützung von CERN und der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft (SPG). In regelmässigen Abständen werden weitere Programme für Schweizer Lehrer/innen folgen. Informationen dazu bei Hans Peter Beck: Tf. +41 22 767 11 94, Mail: Hans.Peter.Beck@cern.ch

Reportage Christine Plass (veröffentlicht: 18. 6. 2013)

  • Hans Peter Beck erklärt das CERN und wie Lehrer ihre Schüler mit einfachen Modellen und Experimenten an Teilchenphysik heranführen können.
  • Im Herz von CERN, der Protonenquelle. Am Modell erklärt Mick Storr, wie dem Wasserstoffgas hier die Protonen entzogen werden, die dann im Large Hadron Collider (LHC) miteinander kollidieren.
  • Original-Kontrollraum der Protonenquelle.
  • Andreas Schopper lässt seine Augen scannen, um sich Zutritt zum LHCb zu verschaffen.
  • Gerfried Wiener von der Uni Wien erklärt, warum Supraleitungen im LHC zum Einsatz kamen. Alle dürfen mal testen, wie schwer konventionelle Kupferkabel sind, die in der Lage wären, 13000 Ampere zu leiten, ohne zu schmelzen.
  • Nach dem fachgerechten Aufbau der Nebelkammer warten die Physiklehrer gespannt auf Teilchen.
  • Hans Peter Beck erklärt das CERN und wie Lehrer ihre Schüler mit einfachen Modellen und Experimenten an Teilchenphysik heranführen können.Bild: Christine Plass1/6
  • Im Herz von CERN, der Protonenquelle. Am Modell erklärt Mick Storr, wie dem Wasserstoffgas hier die Protonen entzogen werden, die dann im Large Hadron Collider (LHC) miteinander kollidieren.Bild: Christine Plass2/6
  • Original-Kontrollraum der Protonenquelle.Bild: Christine Plass3/6
  • Andreas Schopper lässt seine Augen scannen, um sich Zutritt zum LHCb zu verschaffen.Bild: Christine Plass4/6
  • Gerfried Wiener von der Uni Wien erklärt, warum Supraleitungen im LHC zum Einsatz kamen. Alle dürfen mal testen, wie schwer konventionelle Kupferkabel sind, die in der Lage wären, 13000 Ampere zu leiten, ohne zu schmelzen.Bild: Christine Plass5/6
  • Nach dem fachgerechten Aufbau der Nebelkammer warten die Physiklehrer gespannt auf Teilchen.Bild: Christine Plass6/6

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