Die personalisierte Gesundheit zielt auf eine optimale medizinische Versorgung anhand von personenspezifisch erhobenen Daten ab. Dieses Webportal liefert Hintergrundinformationen zum Thema und zeigt mögliche Anwendungsgebiete und aktuelle Forschungsarbeiten auf.mehr

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Perspektive Ethik

Susanne Brauer, Vizepräsidentin der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW)

Susanne Brauer
Vizepräsidentin der Zentralen Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW), Fachbereichsleiterin bei der Paulus Akademie Zürich und Gründerin von «Brauer und Straub | Medizin, Ethik, Politik», einem Büro für Auftragsforschung und Beratung

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Ein erklärtes Ziel der Medizin ist es, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zu schaffen, die passgenau auf ein Individuum zugeschnitten sind. Für diese Entwicklungen werden vermehrt gesundheitsbezogene Daten im Stil von Big Data einbezogen. Die Quellen, aus denen sich diese Daten speisen, haben sich durch IT-Infrastrukturen aber auch durch Self-Tracking-Devices wie Fitness-Uhren oder Gesundheits-Apps vervielfältigt. Personalisierte Gesundheit geht noch einen Schritt weiter und will solche Daten auch für die Gesundheitsförderung und Prävention gebrauchen. Damit rückt verstärkt die öffentliche Gesundheit (Public Health) in den Fokus.

Ich glaube nicht, dass es zu grösseren Veränderungen oder gar Disruptionen kommt, wenn sich im Gesundheitssystem das Konzept der personalisierten Gesundheit durchsetzt. Sehr wohl aber meine ich, dass die computergestützte Medizin zu einem Akzentwechsel im Arztberuf führen könnte. Wenn Algorithmen aufgrund der zu bewältigenden Komplexität Krankheitsbilder genauer erkennen und geeignetere Therapievorschläge machen als dies Fachpersonen könnten, dann werden vor allem kommunikative, empathische und soziale Kompetenzen von Ärztinnen und Ärzten gefragt sein. Denn es bedarf nach wie vor eine Übersetzung der Ergebnisse – gerade auch, wenn es um Wahrscheinlichkeiten geht. Die Frage, was ein Testresultat oder ein Behandlungsvorschlag für einen persönlich und für die eigene Lebenssituation bedeutet, wird bestehen bleiben. Zu ihrer Beantwortung wünschen sich viele Patientinnen und Patienten sicherlich weiterhin einen Menschen als fachkundigen Gesprächspartner, der auf sie einzugehen vermag. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diese Aufgabe zukünftig Sprachcomputern überlassen sehen möchten, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet sind.

Gesundheitsbezogene Daten hat die Medizin schon immer verwendet. Auch ein ärztliches Erfahrungswissen speist sich aus wahr- und aufgenommenen Informationen zum Gesundheitszustand eines Menschen. Neu ist seit den letzten Jahrzehnten, dass Computerprogramme mit diesen Daten gefüttert werden und daneben vermehrt andere, beispielsweise genetische Daten, zum Einsatz kommen. Dank Wearables wie Aktivitätstracker könnte die medizinische Forschung zunehmend auch Daten ausserhalb eines Laborsettings analysieren, etwa zum Schlaf. Wie gut aber ein Softwareprogramm Krankheiten erkennen oder Behandlungsvorschläge machen kann, hängt stark von der Qualität der Daten ab, die man bei seiner Entwicklung und Anwendung benutzt. Hier entscheidet sich, was die IT-gestützte Medizin tatsächlich zu leisten in der Lage ist. Zudem ist bei sehr grossen Datenpools damit zu rechnen, dass man zahlreiche Abweichungen finden wird, etwa genetische Varianzen, deren Bedeutungen man aber (noch) nicht kennt. Das heisst, man weiss nicht, welche Krankheitsrelevanz sie besitzen. Das Hinterfragen medizinischer Normalitäten, gegebenenfalls das Setzen neuer Standards und die Bewertung von Abweichungen können wir nach wie vor nicht an die IT delegieren. Ich bin überzeugt, dass Fragen danach, was gesund ist und was krank, im fachspezifischen und interprofessionellen, aber auch im gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Diskurs an Wichtigkeit gewinnen werden.

Die Hoffnung ist, dank Big Data eine bessere Medizin und Gesundheitsförderung erzielen zu können. Die Herausforderung ist, dabei den Menschen als Ganzes nicht aus den Augen zu verlieren. In Krankheitsphasen wünschen und brauchen viele eine ihnen persönlich zugewandte, zwischenmenschliche Begleitung. Eine solche anzubieten, gehört meiner Meinung nach ebenfalls in die ärztliche Verantwortung und zu den Aufgaben medizinischer Professionen.

Dieses Interview gibt die persönliche Meinung von Frau Brauer wieder.


September 2018