Die personalisierte Gesundheit zielt auf eine optimale medizinische Versorgung anhand von personenspezifisch erhobenen Daten ab. Dieses Webportal liefert Hintergrundinformationen zum Thema und zeigt mögliche Anwendungsgebiete und aktuelle Forschungsarbeiten auf.mehr

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Perspektive Bundesamt für Gesundheit

Stefan Spycher, Bundesamt für Gesundheit

Stefan Spycher
Vizedirektor und Leiter Direktionsbereich Gesundheitspolitik des Bundesamts für Gesundheit (BAG)

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Es besteht noch kein allgemeines Verständnis davon, was mit personalisierter Gesundheit gemeint sein soll. Insbesondere wären verwandte oder konkurrierende Begriffe wie personalisierte Medizin, individualisierte Medizin, stratifizierte Medizin, Präzisionsmedizin oder Big Data davon abzugrenzen.

Für das BAG ist die personalisierte Gesundheit dadurch charakterisiert, dass zusätzlich zum Krankheitsbild Informationen über die biologische Ausstattung einer Patientin oder eines Patienten (insbesondere genetische Eigenschaften) und weitere Gesundheitsdaten einbezogen werden. Im Gegensatz zur personalisierten Medizin fokussiert sie auf gesunde und kranke Personen, umfasst also auch die Prävention. Die Erkenntnisse sollen nicht nur einzelnen Patientinnen und Patienten, sondern der gesamten Bevölkerung zugutekommen (Stichwort Public Health), indem zum Beispiel Krankheitsrisiken früh erkannt und Gesundheitsstrategien für die Betroffenen lange vor Krankheitsausbruch entwickelt werden können.

Seit der Jahrtausendwende haben sich die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik vervielfacht – und die Entwicklung schreitet fort. Heute stehen erheblich mehr Informationen über die genetische Ausstattung und Entwicklung einer Person zur Verfügung, anhand denen sich zum Beispiel Wechselwirkungen mit Medikamenten abschätzen lassen. Zudem sammeln und speichern wir immer schneller immer mehr Daten, die von bestimmten Algorithmen und zunehmend selbstlernenden Systemen detailliert ausgewertet werden können.

Wir befinden uns mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess, dessen Konsequenzen schwierig einzuschätzen sind. Klar ist, dass das Gesundheitswesen, in dem heute noch immer viel Papier bewegt wird, derzeit einen drastischen Digitalisierungsschub erfährt. Dabei gilt es, standardisierte, qualitativ gute Daten allgemein zugänglich zu machen und zugleich den Datenschutz zu wahren. Kein leichter Spagat.

Wir gehen davon aus, dass sich durch die Verfügbarkeit dieser Daten irgendwann Krankheiten besser behandeln lassen, dass sich die Gesundheit der Bevölkerung verbessert und dass die Kosten sinken werden. Im Moment können wir aber nicht beurteilen, ob diese hohen Erwartungen auch eingelöst werden können. Offen ist zudem, inwieweit neben den gesundheitsbezogenen Daten auch allgemeine Informationen aus dem Gesundheitswesen, etwa über Finanz- und Warenströme, Qualifikationen der Fachpersonen, Trends bei nichtmedizinischen Leistungen etc., einbezogen werden können. Solche Daten sind ebenfalls relevant, um die Versorgungsqualität zu verbessern.

Schliesslich stellt sich die Frage, ob es gelingt, die Patientinnen und Patienten als (Mit)eigentümer und -verwalter ihrer Daten in das System zu integrieren, oder ob sich neue Formen des Ausgeliefertseins ergeben, sei es aufgrund ökonomischer Ungleichheiten oder als Folge anonymer, selbstlernender automatischer Datenverarbeitungssysteme.

Der Megatrend «Digitalisierung» erfasst alle Lebensbereiche – insofern gibt es keine Alternative. Wie bisher wird sich bei jeder Behandlung die Frage stellen, in welchem Umfang die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden sollen. Eine andere Frage ist, welche Dimensionen unseres Lebens nicht von der Digitalisierung erfasst werden können oder sollen: Wollen wir einen Roboter als Hausarzt? Wollen wir auf unserer Entscheidungsautonomie beharren, wenn die Datenlage uns angeblich keine Wahl lässt? Hier wird es auf die konkreten Erfahrungen jedes und jeder Einzelnen ankommen sowie auf die Diskussionen, die sich daraus ergeben.

An erster Stelle steht die Chance, eine qualitativ bessere, effizientere und mehr patientenzentrierte Gesundheitsversorgung anbieten zu können. Aus Public-Health-Perspektive erhoffen wir uns Verbesserungen bei der Prävention und Gesundheitsförderung, zum Beispiel eine bessere Früherkennung oder spezifischer auf individuelle Bedürfnisse zugeschnittene Massnahmen. Falls es gelingt, auch Daten zu Struktur und Prozessen im Gesundheitswesen zugänglich zu machen, besteht Aussicht auf dessen deutlich effizientere Steuerung.

Gesundheitsbezogene Daten gehören zu den sensibelsten Daten einer Person. Der Daten- und Persönlichkeitsschutz sowie die informationelle Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen, sind deshalb grosse Herausforderungen. Der sorgfältige Umgang muss stets gewährleistet sein. Es gibt zudem Befürchtungen, dass gewisse Gruppen beim Zugang zu Gesundheitsleistungen diskriminiert werden. Einerseits könnten Personen mit hoher Gesundheitskompetenz die Personalisierung für sich nutzen, andererseits könnte die vorhersagende Wirkung der Daten das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem untergraben: Wer mit «schlechten» Genen geboren wurde oder keine Daten über einen gesunden Lebensstil vorweist, verliert die Unterstützung.

Es ist mit tiefgreifenden Veränderungen zu rechnen. Einige Stimmen gehen sogar davon aus, dass es einen neuen Gesellschaftsvertrag brauchen wird.


September 2018