«Fliessgewässer brauchen klimaresistente Restwassermengen»
Carte blanche für Florian Altermatt, Ole Seehausen und Bernhard Wehrli
13.04.2022 – Die Schweizer Gewässer beherbergen eine ausgesprochen hohe biologische Vielfalt auf engem Raum. Durch Eingriffe in die Umwelt wie Wasserkraftwerke oder Begradigungen steht diese Vielfalt aber unter grossem Druck, der mit dem Klimawandel zusätzlich verstärkt wird. Deshalb braucht es genügend und an jedes Gewässer angepasstes Restwasser, um diese Ökosysteme gegen den Klimawandel zu wappnen.
Der Beitrag gibt die persönlichen Meinungen der Autoren wieder und muss nicht mit der Haltung von SCNAT übereinstimmen.
Energiewende, Krieg und steigender Stromverbrauch führen dazu, dass die Wasserkraft in der Schweiz noch intensiver genutzt werden soll. Neu dabei ist die Forderung, die gesetzlichen Restwasservorschriften zu lockern. Aus wissenschaftlicher Sicht sind wir besorgt, dass damit die Gewässerökosysteme und ihre Biodiversität verstärkt gefährdet würden, denn über 80 Prozent der bekannten 45'000 Tier- und Pflanzenarten der Schweiz kommen in Gewässern und direkt anliegenden Gewässerräumen vor. Schon heute hat die Schweiz von allen Ländern weltweit die vierthöchste Zahl an ausgestorbenen Fischarten. 59 Prozent der verbleibenden Fischarten und 62 Prozent aller untersuchten Gewässerinsekten stehen als gefährdete oder potentiell gefährdete Arten auf der Roten Liste.
Aktuelle Restwasserregelung beruht auf wissenschaftlichen Grundlagen
Die Eckdaten für die Bemessung von Restwassermengen basieren auf wissenschaftlichen Studien, an welchen auch das Wasserforschungsinstitut Eawag beteiligt war. Nur ein Teil davon wurde, gestützt auf den Verfassungsauftrag von 1975, gesetzlich verankert. Man war sich zudem bewusst, dass die Umsetzung aufgrund der Konzessionsrechte sehr lange dauern würde. Doch genügend Restwasser ist entscheidend, damit Fische und alle anderen aquatischen Organismen überleben, sich in den Gewässern vermehren, und funktionierende Artengemeinschaften aufrechterhalten können. Der Bundesrat hat die Mindestrestwassermengen in seiner Botschaft zur Revision des Gewässerschutzgesetzes von 1991 daher als «Existenzminimum für die wichtigsten vom Gewässer abhängigen Lebensgemeinschaften» charakterisiert. Schon kurzfristiges Austrocknen ist katastrophal. Durch das Absterben von Eiern, Jungfischen oder Gewässerinsekten wird das Ökosystem immer wieder praktisch auf Null zurückgesetzt. Bei der Wiederbesiedlung haben Generalisten mit schnellem Ausbreitungspotential einen Vorteil. Spezialisiertere Arten werden verdrängt. Auch genetisch kommt es zu einer ständig zunehmenden Homogenisierung der aquatischen Artengemeinschaften.
Die Gewässerforschung hat in Bezug auf Restwasser weltweit grosse Fortschritte gemacht. Wichtige Faktoren sind identifiziert, welche auch eine moderne Umsetzung des Schweizer Restwasserkonzepts möglich machen: Um Lebensräume und die natürliche Vielfalt der Artengemeinschaften in Bächen, Flüssen und Seen zu erhalten, braucht es erstens regelmässig wiederkehrende Hochwasserereignisse, welche die Gewässersohle aufwirbeln und einen Sedimenttransport bewirken, der wiederum zur Schaffung vielfältiger Lebensräume unabdingbar ist. Zweitens müssen besonders bei grösseren Gewässerstrecken die Restwassermengen nicht schematisch, sondern mit hydraulischen Bewertungen festgelegt werden, um jederzeit genügende Wassertiefen, benetzte Flächen und lebensfreundliche Wassertemperaturen sicherzustellen. Und drittens muss das Ablaufen von zumeist 80 Jahre währenden Konzessionen dazu genutzt werden, die Situation neu zu beurteilen. Wird eine Konzession erteilt, müssen die Restwassermengen das Existenzminimum für aquatische Lebensgemeinschaften tatsächlich dauerhaft sichern können.
Der Klimawandel erfordert rasche ökologische Sanierung der Restwasserstrecken
Viel Zeit bleibt nicht. Die ökologische Sanierung der Wasserkraft ist dringend, weil der Klimawandel die Gewässer schon heute zunehmend erwärmt und den Abfluss verändert. Nebst dem Vermeiden von unnatürlichen Schwall-Sunk-Abflüssen, der Wiederherstellung der Durchgängigkeit für Fische und einem möglichst naturnahen Geschiebetransport gehört auch die bisher aufgeschobene Erhöhung der Restwassermengen dazu. Die Wissenschaft kann ihren Beitrag zur Umsetzung leisten, denn das geltende Gesetz erlaubt, unter anderem mit Ausnahmeregeln und dem Instrument der Schutz- und Nutzungsplanung, zeitgemässe, auch an den Klimawandel angepasste Lösungen im Einklang mit der Nutzung des Wassers zur Stromproduktion. Basierend auf den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen sollten daher die Fachbehörden bei Neukonzessionierungen dort wo nötig rasch höhere und dynamischere Restwassermengen verfügen. Nur so werden wir auch in Zukunft funktionierende, vielfältige und widerstandsfähige Gewässerökosysteme haben.
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Florian Altermatt ist Ausserordentlicher Professor für Aquatische Ökologie an der Universität Zürich, er leitet eine Forschungsgruppe an der Eawag und ist Präsident des Forums Biodiversität.
Ole Seehausen ist Ordentlicher Professor für Aquatische Ökologie und Evolutionsbiologie an der Universität Bern. An der Eawag leitet er die Abteilung Fischökologie und Evolution.
Bernhard Wehrli ist Ordentlicher Professor für Aquatische Chemie an der ETH. Ein Teil seiner Arbeitsgruppe ist an der Eawag angesiedelt.
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