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«Wir müssen die subtilen Dynamiken der Macht im Naturschutz besser berücksichtigen»

Carte blanche für Ross T. Shackleton, Livia B. Fritz und Mosè Cometta von der Eidg. Forschungsanstalt WSL

Die Schweiz hatte zwei Projekte für neue Nationalpärke, den Park Adula und den Locarnese Park. Beide wurden von der lokalen Bevölkerung abgelehnt. Künftig sollten subtile Machtdynamiken besser berücksichtigt werden, um gerechte Schutzgebiets-Projekte zu schaffen.

Carte Blanche / Ross T. Shackleton, Livia B. Fritz, Mosè Cometta
Bild: zvg

Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autor:innen wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.

Die Einrichtung der beiden Nationalpärke Adula und Locarnese wurden von den lokalen Gemeinden vorgeschlagen, dort breit diskutiert und es schien viele Vorteile sowohl für die lokale Bevölkerung wie auch für die Umwelt zu geben. Wie konnten diese Projekte an der Urne scheitern? Verschiedene Forschungsprojekte haben subtile Machtdynamiken identifiziert, die bei der Umsetzung zu wenig berücksichtigt worden sind.

Für Sünden der Städte büssen

Demnach war ein Teil der lokalen Bevölkerung überzeugt, dass sie durch die Nationalpärke an Macht verlieren und sich den tonangebenden und wohlhabenderen Schichten in den Städten «einmal mehr» unterordnen müssen. Sie befürchteten neue Regeln, Verbote, eine überbordende Bürokratie und letztlich, dass dadurch lokal ihr Lebensstil und der traditionelle Umgang mit der Natur verloren ginge. Dies wurde als ungerecht erachtet, weil die gesamte Gesellschaft und insbesondere die urbanen Zentren die ökologischen Probleme verursacht haben.

Vom «Tod» lokaler alpiner Gemeinschaften und Kulturen wurde gar gesprochen. Über Jahrhunderte geformte Kulturlandschaften würden zu touristischen Hotspots verkommen. Ob diese Befürchtungen gerechtfertigt sind oder nicht – die Argumente zeigen, dass es im Umweltschutz nicht nur um Fakten geht, sondern auch um Werte und Sichtweisen, die von früheren Erfahrungen des «Nicht-Gehört-Werdens», Diskursen, Verhandlungen und Machtkämpfen geprägt sind.

Die vier Arten von Macht

In den Sozialwissenschaften unterscheiden wir vier Arten von Macht: die akteurs-zentrierte, die institutionelle, die strukturelle und die diskursive Macht.

Akteure: Einzelne Personen haben sehr unterschiedliche Möglichkeiten, andere zu beeinflussen und mitzubestimmen, welche Handlungsoptionen denkbar sind. Gerade beim Locarnese Park waren die Hauptgegner:innen einflussreiche Aktivist:innen, die grösstenteils ausserhalb des Parkgebietes leben. Sie überzeugten eine Mehrheit der lokalen Bevölkerung Nein zu sagen. Wurden da wirklich alle Stimmen gleichberechtigt gehört? Eine Analyse der Akteure und entsprechende Dialogformate können zu repräsentativeren und damit gerechteren Entscheiden führen.

Institutionen: Gesetze, ungeschriebene Regeln oder kulturelle Normen verändern das Machtgefüge. Beim Adula Park waren die Befürchtungen von Rustici-Besitzer:innen entscheidend, sie würden für frühere Bauvergehen belangt. Tatsächlich überliess es das Tessin seit Jahrzehnten weitgehend den Eigentümer:innen, wie sie ihre Rusticis betrieben. Kontrollen gab es kaum und es entwickelte sich eine soziale Norm, dass sich da der Staat nicht einmischen soll. Mit den Nationalpärken hätten sich die Regeln für die Landnutzung geändert, was viele nicht wollten. Diesem Umstand hätte man im Projekt in gewissem Umfang Rechnung tragen können.

Strukturen: Nord-Süd, Stadt-Land, Frau-Mann – aus strukturellen Gründen sind die Einflussmöglichkeiten von sozialen Gruppen sehr unterschiedlich. Solche Machtkonstellationen waren in der Ablehnung der beiden Nationalpärke entscheidend. Demnach würden urbane Herausforderungen und Bedürfnisse auf Kosten der ländlichen Gebiete und ihrer einzigartigen und gefährdeten Kulturen befriedigt. Stimmt diese Erzählung oder sind die tatsächlichen Treiber der Veränderung andere? Gibt es kaum wahrgenommene Gegenerzählungen? Und wären die eigenständigen Strukturen, Praktiken und Werte tatsächlich gefährdet gewesen? Wir sollten darauf achten, historisch bedingte Ungleichheiten durch Naturschutzprojekte nicht zu verstärken.

Debatten: Mit Ideen, Narrativen und Wissen lassen sich andere Menschen beeinflussen. Die Möglichkeiten dazu sind ungleich verteilt. Beim Adula Park konkurrenzierten zwei komplett gegensätzliche Geschichten. Befürworter:innen sprachen von neuen Ressourcen fürs Tal, von Jobs und Möglichkeiten für Familien und Junge. In ihrer Sicht fördert ein Nationalpark die lokale Integration und Entwicklung. Die Gegner:innen dagegen sahen die Freiheit des Tales beschnitten durch neue Akteure und Vorschriften. Andere Formen von Wissen und marginalisierte Sichtweisen aufzuzeigen, kann Naturschutzprojekte gerechter machen.

Seien es Nationalpärke, der Umgang mit dem Wolf oder der Ausbau von Energieinfrastrukturen in den Alpen – Machtdynamiken zu verstehen und anzugehen ist entscheidend, um effektiven und sozial gerechten Naturschutz zu betreiben. Dies gilt es in der Umsetzung, aber auch in der Wissenschaft zu berücksichtigen. Gerade für Forschende bedeutet dies aber auch das Öffnen einer Büchse der Pandora: man steigt in Debatten ein, muss sich lokalen Kontexten anpassen und sich mit seinen eigenen Grenzen und Widersprüchen auseinandersetzen. Gut so! Letztlich sind wir Forschende auch Akteure mit durchaus beträchtlichem Einfluss auf Machtdynamiken im Umweltschutz - dies sollten wir stets berücksichtigen.

Grundsätze für Forscher:innen und Praktiker:innen

Kürzlich wurden sechs Grundsätze für Forscher:innen und Praktiker:innen kollaborativ erarbeitet, um mit Machtdynamiken in Naturschutz und Nachhaltigkeitsprojekten umzugehen:

  1. Die Werte und Erwartungen aller beteiligten Individuen identifizieren, verstehen und klären sowie deren Wirkung auf die Entscheidfindung anerkennen
  2. Die Entscheidfindung räumlich und zeitlich erkennen und berücksichtigen
  3. Verstehen wer gewinnt und wer verliert. Im Umweltschutz ist es üblich, dass einige Akteure, Initiativen oder Diskurse an Macht zulegen; nicht selten auf Kosten anderer.
  4. Anerkennen, dass Machtbeziehungen bestehen, wenn Personen – auch einander wohlgesinnte – mit Unterschieden in Wissen, Erfahrungen und Werten sich in partizipativen Prozessen beteiligen. Eine offene Kommunikation gilt es aktiv zu unterstützen.
  5. Konflikte (oder deren Abwesenheit) als Ausdruck von Machtbeziehungen erkennen und verstehen
  6. Das Recht einzugreifen und die Konsequenzen davon genau abwägen. Dies hilft sicherzustellen, dass das Gesagte und die Handlungen angemessen und legitim sind im gegebenen Kontext.

Ross Shackleton arbeitet als interdisziplinärer Forscher in den Bereichen globaler Wandel, Umweltmanagement und Waldmonitoring für die Abteilung Waldressourcen und -management der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).

Livia Fritz ist eine interdisziplinäre Sozialwissenschaftlerin, die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft im Bereich Nachhaltigkeit und Klima erforscht. Ihre Arbeit zielt darauf ab, Wege zu finden, um diese komplexen Schnittstellen für Nachhaltigkeitstransformationen und eine gerechte Klimagovernance zu verbessern.

Mosè Cometta ist Stadtforscher an der Universität der italienischen Schweiz und beschäftigt sich mit Machtgefügen, der Analyse öffentlicher Diskurse und der institutionellen Akteure in der Raumplanung – insbesondere in Bezug auf Schutz- und Randgebiete.

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  • Naturpärke