«Mit Mist und Gülle gegen die Stromlücke»
Carte blanche für Vanessa Burg, Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL)
29.03.2022 – Die Nutzung von Hofdünger zur Energiegewinnung würde wesentlich zu drei aktuellen Zielen der Schweiz beitragen: zum Ersatz von fossilen Brennstoffen, zur klimafreundlicheren Landwirtschaft und zur grösseren Selbstversorgung. Warum setzen wir nicht stärker auf Mist und Gülle?
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Der Ukraine-Krieg führt uns vor Augen, wie massiv die Schweiz von ausländischen fossilen Energiequellen abhängig ist. Dabei hätten wir es in der Hand, den Grad der Selbstversorgung mit nachhaltiger Energie zu erhöhen. Neben den bekannten Ressourcen wie Wasser, Sonne und Wind gibt es eine Energiequelle, die wir noch kaum nutzen: Mist und Gülle, die täglich in hohen Mengen in der Landwirtschaft anfallen.
Als Hauptautorin einer kürzlich erschienen Analyse habe ich mich intensiv mit dieser Energieform auseinandergesetzt. Ich bin überzeugt, dass die Energiewende nur mit einem Puzzle von ineinandergreifenden Massnahmen gelingt. Die anaerobe Vergärung (AV) von organischen Abfällen oder Reststoffen wie Hofdünger, Lebensmittelabfällen oder Abwässern könnte dabei einen signifikanten Beitrag zur Energieversorgung der Schweiz leisten. Welches Potenzial hat die landwirtschaftliche AV? Und warum lohnt es sich, Stolpersteine aus dem Weg zu räumen?
Biogas kann bis zu einem Viertel des Gasverbrauchs decken
AV ist eine von mehreren Möglichkeiten, um organisches Material in Nutzenergie umzuwandeln. Dabei bauen Mikroorganismen dieses unter Ausschluss von Sauerstoff ab. Es entsteht Biogas, ein Gasgemisch, das sich hauptsächlich aus Methan und Kohlendioxid zusammensetzt.
Das Potenzial der AV ist riesig. So produziert eine Herde von 300 Milchkühen täglich etwa 15 Tonnen Hofdünger. Neben 1,5 Millionen Rindviechern gibt es in der Schweiz viele weitere Nutztiere – die Menge an Hofdünger ist also enorm. Wir haben berechnet, dass bei der derzeitigen landwirtschaftlichen Praxis, mit Schweizer Hofdünger rund 430 Millionen Kubikmeter Biogas pro Jahr erzeugt werden könnten. Das entspricht in etwa der Energie von 475 Millionen Litern Benzin oder 2 Prozent des aktuellen Energiekonsums des Landes. Mit Biogas aus der Landwirtschaft liesse sich rund 15 Prozent des heutigen Verbrauchs von Erdgas decken, das derzeit fast vollständig importiert wird. Wenn wir alle vergärbaren Bioabfälle mitrechnen, kommen wir sogar auf über 25 Prozent. Heute stammen jedoch nur 2 Prozent des gesamten Gasverbrauchs in der Schweiz aus heimischem Biogas.
Drei Fliegen mit einer Klappe
Die Verwendung von Mist und Gülle zur Energiegewinnung bringt zusätzliche Vorteile: Erstens liefert Biogas Strom, Wärme und Treibstoff und kann ins bestehende Gasnetz eingespeist werden. Biogas lässt sich zudem einfach speichern und ist deshalb im Gegensatz zu anderen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie zeitlich flexibel verfügbar. Zweitens reduziert die Vergärung von Mist und Gülle in einem geschlossenen Gassystem die Treibhausgas-Emissionen, die bei der herkömmlichen Lagerung unkontrolliert entweichen. Drittens bleiben die Nährstoffe im Gärgut erhalten und können als organischen Dünger auf den Feldern ausgetragen werden. Damit liesse sich sogar der Einsatz von Kunstdünger reduzieren, weil Umwandlungsprozesse bei der Vergärung die Nährstoffe für Pflanzen besser verfügbar machen.
Warum wird trotz dieser Vorteile in der Schweiz nicht mehr Mist und Gülle vergoren? Im Vordergrund stehen ökonomische Hürden. Die Wirtschaftlichkeit einer Biogasanlage hängt von mehreren Faktoren ab: dem Ertrag aus der verkauften Energie (Strom, Wärme oder Gas), der finanziellen Unterstützung durch verschiedene Organisationen, darunter der Staat, und der Möglichkeit das Gärgut zu vermarkten. Bei den heutigen Energiepreisen ist Schweizer Biogas nicht konkurrenzfähig. Im Gegensatz zu Wasser- oder Sonnenergie gibt es für Biogas auch keine direkten Subventionen. Weil die Energiepreise künftig wohl steigen werden, zahlen sich Investitionen in die landwirtschaftliche AV aber früher oder später aus. Vor dem Hintergrund der aktuellen geopolitischen Entwicklungen könnte dies schon rasch der Fall sein.
Standard statt Ausnahme
Bei Diskussionen zur Energiewende geht die Biogas-Produktion aus organischen Abfällen und Reststoffen oft vergessen. Ich bin jedoch der Meinung, dass man sie genauso fördern sollte wie Strom aus Wind und Sonne. Auch sie trägt zu einer nachhaltigen Schweizer Energieversorgung bei. Eine Biogasanlage zur Gewinnung von Energie und organischem Dünger sollte Teil des gängigen Hofdüngermanagements und integraler Bestandteil der landwirtschaftlichen Kreislaufwirtschaft werden und keine Ausnahme sein. Weil Hofdünger vor allem im Winter anfällt, wenn die Kühe im Stall stehen, und aufgrund der Möglichkeit, Gas zu speichern, kann Biogas zudem Versorgungslücken in der kalten Jahreszeit füllen. Das würde die Schweiz zudem von Importen, insbesondere von fossilen Brennstoffen, unabhängiger machen.
—
Vanessa Burg ist Umweltingenieurin und forscht an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) zum nachhaltigen Management von Bioressourcen.
Carte blanche – Forschende kommentieren
- «Die einzigartige Biodiversität des Grundwassers braucht mehr Beachtung»
- «In der Raumplanung sind Sofortmassnahmen entscheidend, um das Stabilisierungsziel zu erreichen»
- «Landschaftsbeobachtung Schweiz muss für die Praxis relevanter werden»
- «Der Unterricht in den Naturwissenschaften und die Ausbildung der Lehrpersonen müssen mit der Zeit gehen»
- «Die Wissenschaft sieht politischen Handlungsbedarf bei der Biodiversität»
- «Umbruch im Hochgebirge: Sicherheit muss vorgehen»
- «Künstliche Intelligenz kann das Wirtschaftswachstum auf beispiellose Weise ankurbeln – und damit Umweltkrisen verschärfen.»
- «Wir müssen die subtilen Dynamiken der Macht im Naturschutz besser berücksichtigen»
- «Mit den richtigen Metaphern die Menschen für die Biodiversität sensibilisieren»
- «Aufbau der ökologischen Infrastruktur kann die Trendwende bringen»
- «Ansätze zur Dekolonisierung der Forschungszusammenarbeit zwischen Nord und Süd»
- «Einbezug der Geschlechtervielfalt ist gut für die Wissenschaft»
- «Umdenken statt umbringen: Warum wir das Zusammenleben mit Wildtieren üben sollten»
- «Das Märchen von den Kosten des Klimaschutzes schadet der Schweiz»
- «Für einen wirklich demokratischen Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen»
- «Hohe Lebensqualität geht auch ohne hohen Ressourcenverbrauch»
- Lebensraum für Insekten stärkt Bestäubung und landwirtschaftliche Produktion
- «Um den Klimawandel zu bekämpfen, müssen wir die Qualität des Bodens verbessern, auch in der Schweiz»
- «Ein konstruktiver Kompromiss: der Natur Raum geben und den Energieausbau ermöglichen»
- Erfolg von Frauen in wissenschaftlichen Führungspositionen muss solider werden
- «Diese Technologie kann zu einer nachhaltigen Kernenergieversorgung beitragen»
- «Thorium weckt Hoffnung auf eine gelassenere Klimazukunft»
- «‹Energie sparen› dämpft Energiekrisen, schont das Klima und wird akzeptiert»
- «Der Schweizer Untergrund braucht eine Governance»
- «Mehr Grundlagendaten für eine nachhaltige Wasserkraft»
- «Schädigende Subventionen abbauen schont Umwelt und Finanzen»
- «Ernährungssicherheit erfordert eine umfassende Sichtweise»
- «Risiken von Pflanzenschutzmitteln schnell zu reduzieren ist alternativlos»
- «Mehr unabhängige Forschung zu klimaschonendem Tourismus»
- «Fliessgewässer brauchen klimaresistente Restwassermengen»
- «Technologien für netto null sind einsatzbereit und bezahlbar»
- «Mit Mist und Gülle gegen die Stromlücke»
- «Breite Gentechdebatte mit neuer Gelassenheit starten»
- «Schweiz droht Entwicklung grüner Technologie zu verschlafen»
- «Weniger Wirtschaft in der Regionalpolitik»
- «Das Gymnasium darf sich nicht verzetteln!»
- «Gleicher Ertrag mit halb soviel Pestizid: Das geht!»
- «Die Wirkungsmechanismen der Natur besser verstehen»
- «Geographie muss endlich Schwerpunktfach werden»
- «Konsumierende wollen keine Gentechnik» taugt als Mantra nicht
- «Klimaziele erreichen, ohne den CO₂-Ausstoss gross zu verringern»
- «Beim CO2-Gesetz steht auch die internationale Glaubwürdigkeit auf dem Spiel»
- «Zur Klimakrise sprechen wir weiterhin Klartext!»
- «Das neue CO₂-Gesetz ist besser als behauptet – genügt aber noch nicht»