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CHIPP-Preis 2024: Wenn die Physik zum Leben erwacht

für Neutrino-Expertin Gabriela Rodrigues Araujo

Herzlichen Glückwunsch an Gabriela Rodrigues Araujo, die diesjährige Gewinnerin des CHIPP-Preises für die beste Dissertation in Teilchenphysik! Gabriela ist Neutrinoexpertin – allerdings erforscht sie Ereignisse, deren besonderes Merkmal das Fehlen von Neutrinos ist. Sie weiss fast alles über die scheuen kleinen Biester, die uns ständig umgeben, ohne dass wir es bemerken. Und sie will noch mehr herausfinden. Derzeit ist sie Postdoc an der Universität Zürich und leitet die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im Bereich der Bildgebungsverfahren für PALEOCCENE, eine Zusammenarbeit, die sie mit initiiert und vorangetrieben hat.

Gabriela Araujo, Auch bei Wettbewerben zur Wissenschaftskommunikation wie hier Famelab ist sie dabei.
Bild: Gabriela Araujo

In ihrer bisherigen Karriere als Teilchenphysikerin, die in ihrer Heimat Brasilien ihren Anfang nahm, war Gabriela bereits an vier verschiedenen Experimenten beteiligt, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Neutrinophysik befassen: GERDA (https://www.mpi-hd.mpg.de/gerda/), LEGEND (https://legend-exp.org), MONUMENT (https://arxiv.org/abs/2404.12686) und PALEOCCENE (https://arxiv.org/abs/2203.05525)[KM1] . (Übrigens: Wer mehr über Neutrinos wissen möchte und warum sie so schwer zu untersuchen sind, findet hier weitere Infos.) Als Experimentalphysikerin fühlt sie sich sowohl in der Detektorentwicklung als auch in der Datenanalyse zu Hause; darüber hinaus ist sie eine begeisterte Wissenschaftskommunikatorin, die ständig dabei ist, ihre Fähigkeiten zu erweitern.

Dabei hatte sie mit einem Ingenieurstudium begonnen. "Aufgrund der Art und Weise, wie Physik an meiner Schule unterrichtet wurde - trocken und langweilig - kam das Fach für mich ursprünglich nicht in Frage", sagt sie. An der Universität änderte sich das Blatt mit den Physikvorlesungen, die sie für ihr Ingenieurstudium benötigte: "Plötzlich erwachte die Physik zum Leben, und all die Gleichungen, die ich bisher auswendig lernen musste, ergaben einen Sinn. Ich begann, Physik wirklich zu schätzen, belegte alle Physikkurse, die es gab, und fing an, für ein Observatorium für kosmische Strahlung zu arbeiten.“ Ein Stipendien-Austauschprogramm führte sie an die Technische Universität München, wo sie ihren Bachelor- und Master-Abschluss in Physik machte.

Sie begann mit der Erforschung der dunklen Materie, bevor sie nach und nach in ihr heutiges Fachgebiet, die Neutrinos, hineinrutschte. "Ich habe an Flüssig-Argon-Detektoren gearbeitet, daher waren die Konzepte und die Technologie sehr ähnlich", erklärt sie. Ihr erstes Neutrinoexperiment war GERDA am Gran-Sasso-Labor in Italien, das nach einem Phänomen namens neutrinoloser doppelter Betazerfall sucht. Wenn dieser Zerfall gefunden wird, könnte er Aufschluss über die Masse des Neutrinos geben und darüber, ob es sein eigenes Antiteilchen ist – was wiederum erklären könnte, warum in unserem Universum Materie gegenüber Antimaterie dominiert. "Als ich zu GERDA kam, wurde es gerade beendet, also habe ich mir für meine Diplomarbeit die so genannten Legacy-Daten angesehen und Forschung und Entwicklung für das Folgeexperiment LEGEND betrieben", erklärt Gabriela. GERDA verwendet Germaniumkristalle, die in einem Bad aus kaltem, flüssigem Argon aufgehängt sind, um verräterische Anzeichen für den seltenen Zerfall zu finden.

Nach den extrem sauberen und nahezu untergrundfreien Daten dieser beiden Experimente war das nächste, zu dem sie stiess, genau das Gegenteil: MONUMENT, das am PSI angesiedelt ist, nutzt Myonen zur Erforschung von Kernübergängen. MONUMENT verwendet zwar eine ähnliche Art von Detektor und Targets, die für den neutrinolosen doppelten Betazerfall relevant sind, aber der Experimentieransatz, ein Target mit Myonen zu beschiessen, erzeugt ein dichtes Spektrum an physikalischen Prozessen. Daraus ergeben sich eine Vielzahl von Merkmalen und Untergrundrauschen. "Meine Aufgabe war es, nach bestimmten Prozessen zu suchen und die interessanten Daten aus dem Untergrund zu fischen", sagt sie. Im Gegensatz zu den 100-köpfigen GERDA- und den 300-köpfigen LEGEND-Kollaborationen ist MONUMENT mit nur 25 Personen ein eher kleines Projekt. Für die Preisträgerin ist das genau richtig so: "Es ist toll, sowohl in grossen als auch in kleinen Experimenten gearbeitet zu haben; auf dem Weg zu meiner Promotion und jetzt während meines Postdocs erlebe ich wirklich aus erster Hand, wie alles funktioniert - und mache es auch selbst."

Während ihrer Doktorarbeit, als sie mit Studien für das LEGEND-Experiment beschäftigt war und ein spezielles Mikroskop zur Analyse von Prototypen verwendete, hörte sie einen Vortrag eines Theoretikers über die Möglichkeit, passive Detektoren zu verwenden, um Spuren dunkler Materie oder einen Prozess namens kohärente elastische Neutrino-Kern-Streuung (CevNS) durch spezifische Wechselwirkungen mit Materie nachzuweisen. In dem Vortrag wurden jedoch keine experimentellen Tests für diese Herausforderung vorgestellt. Gabriela erkannte, dass sie die Lösung buchstäblich vor der Nase hatte: das Lichtscheibenfluoreszenzmikroskop, das in dem Labor entwickelt wurde, in dem sie arbeitete. Die PALEOCCENE-Zusammenarbeit zur Entwicklung von Teilchendetektoren, die mittels Fluoreszenzmikroskopie ausgelesen werden können, war geboren.

Die passiven Detektoren sind Kristalle, die eine Zeit lang allein gelassen und dann unter dem Mikroskop untersucht werden. Bestimmte Ereignisse können Atome aus dem Kristall herauslösen und einen farbigen Fleck hinterlassen. Unterschiedliche Farben weisen auf verschiedene Teilchen hin, und das Spezialmikroskop liefert ein scharfes 3D-Bild von Dingen, die man bei optischen Wellenlängen normalerweise nicht sehen würde. Die Methode steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. "Wir befinden uns noch in der Forschungs- und Entwicklungsphase", sagt die Forscherin. "Wir untersuchen auch eine mögliche gesellschaftliche Anwendung, weil man es als nukleare Sicherheitsmassnahme verwenden könnte. Es könnte die Nichtverbreitung von spaltbarem Material überwachen und sicherstellen, dass die Länder das Atomabkommen einhalten.“

Die Betreuerin ihrer Dissertation, Laura Baudis, ist stolz auf ihre Arbeit und sagt ihr eine glänzende Zukunft voraus: "Gabriela hat wichtige Beiträge zu mehreren Experimenten geleistet und sogar ein neues, interdisziplinäres Projekt in unserer Gruppe initiiert, um Lichtscheibenmikroskope für den Nachweis von Neutrinos und dunkler Materie einzusetzen. Bereits in diesem Stadium ihrer Karriere ist sie eine unabhängige und angesehene Forscherin in der experimentellen Astroteilchenphysik und hat eindeutig das Potenzial, sich zu einer führenden Persönlichkeit auf diesem Gebiet zu entwickeln."

Gabriela ist auch sehr daran interessiert, ihre Leidenschaft für die Neutrinowissenschaft mit anderen Menschen ausserhalb des Fachgebiets zu teilen und ist froh, dass die Universität Zürich diese Aktivitäten fördert. Sie hat erfolgreich an den Wettbewerben "Drei-Minuten-Thesis" und "Famelab" teilgenommen und hat viel Spass daran. "Ich freue mich, mit Leuten über meine Forschung zu sprechen!" Sie engagiert sich auch im Zürcher "First Gen"-Netzwerk von Personen, die als erste Generation ihrer Familie ein Studium absolviert haben.

Barbara Warmbein

Gabriela Araujo (links) mit einem Kollegen im Labor in Gran Sasso.
Gabriela Araujo (links) mit einem Kollegen im Labor in Gran Sasso.Bild: Gabriela Araujo

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