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Neutrinos aus dem Nirgendwo

Die Schweizer Astroteilchenphysik ist über die Universität Genf an IceCube – einem grossen Experiment der Neutrino-Forschung am Südpol – beteiligt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen mit IceCube unter anderem die genaue Herkunft hochenergetischer Neutrinos klären, die aus den Weiten des Universums auf die Erde treffen. Teil des Experiments ist seit gut zwei Jahren die Nachwuchswissenschaftlerin Tessa Carver (24).

Die Astroteilchenphysikerin Tessa Carver (24) schreibt an der Universität Genf ihre Doktorarbeit im Bereich der Neutrino-Forschung.
Bild: privat / privata / private

Die Bewohner der britischen Insel möchten lieber unter sich bleiben – so jedenfalls macht uns die politische Diskussion um den 'Brexit' – glauben. Nun trifft es zu, dass eine Mehrheit der Briten im Juni 2016 für den Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union gestimmt hat. Doch für Forscherinnen und Forscher macht der Rückzug auf die eigene Heimat meistens keinen Sinn. Denn Wissenschaft lebt vom internationalen Austausch; in der Physik, deren Gesetze universell gelten, gilt das erst recht. Auch Tessa Carver wollte ihr Leben nicht auf die britische Insel beschränken, obwohl sie in Oxford aufgewachsen ist, jener Stadt also, die eine der weltweiten Top-Universitäten beherbergt.


Nachdem Tessa Carver in Oxford die Mittelschule absolviert hatte, ging die Tochter einer Naturwissenschaftlerin und eines Ökonomen zuerst in die Hauptstadt. Dort studierte sie am 'Imperial College London' Physik. „Ich habe mich für diese Studienrichtung entschieden, weil sich die Physik mit den absolut grundlegenden Fragen auseinandersetzt“, sagt Tessa Carver zur Begründung. An der führenden technischen Universität des Landes machte die britischamerikanische Doppelbürgerin 2015 den Master. Das dritte Studienjahr hatte sie in Paris verbracht, an der 'Université de Paris Sud'. In Paris arbeitete sie in der Virgo-Collaboration mit, welche nach Gravitationswellen von exotischen Quellen Ausschau hält.


Teil des IceCube-Konsortiums


„Nach dem Master wollte ich etwas Neues sehen“, sagt Tessa Carver. Sie hatte eine Freundin, die an der ETH Lausanne (EPFL) ihren Master machte. Weil sie sich selber im francophonen Sprachraum zu Hause fühlte, wechselte sie für ihr Doktoratsstudium an die Universität Genf an den Lehrstuhl der Astrophysikerin Prof. Teresa Montaruli. So kam es, dass Tessa Carver in ihrer Doktorarbeit, an der sie seit rund drei Jahren arbeitet, Neutrinos untersucht, die aus dem Universum auf die Erde niedergehen und von denen sich die Astroteilchen-Forscher neue Auskünfte über unser Universum erhoffen.


Wer bei Teresa Montaruli forscht, der erforscht in aller Regel die astrophysikalischen Quellen von hochenergetischen Teilchen. Zu ihnen gehören die Neutrinos, die im IceCube-Experiment untersucht werden. Montaruli ist das Schweizer Bindeglied zum IceCube-Experiment. IceCube ist ein Detektor, der aus einer Anordnung von 5000 optischen Modulen besteht, die in einem Volumen von einem Kubikkilometer ins Eis des Südpols eingelassen wurden. Neutrinos sind sehr flüchtige Gesellen, die sich kaum beobachten lassen. IceCube ermöglicht den beteiligten Wissenschaftlern nun, zumindest einen Teil der Neutrinos zu detektieren, die den Südpol durchqueren. Das Experiment hat 2005 seinen Betrieb aufgenommen und sammelt seither Daten; als vollständiger Detektor arbeitet IceCube seit 2011. Hunderttausende von Neutrinos wurden seither erfasst. Rund 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zwölf Ländern sind an dem Experiment beteiligt.


Rund 80 hochenergetische Neutrinos entdeckt


„Die meisten mit IceCube beobachteten Neutrinos entstehen in der Erdatmosphäre bei der Wechselwirkung mit kosmischer Strahlung“, sagt Tessa Carver. „Unsere Genfer Arbeitsgruppe interessiert sich nun aber für jene Neutrinos, die aus den Weiten des Universums zu uns auf die Erde kommen und uns daher viel über Aufbau und Geschichte des Kosmos erzählen können. Kosmische Neutrinos sollten über eine höhere Energie verfügen als atmosphärische Neutrinos. Wenn wir also die hochenergetischen Neutrinos auswählen, dürfte sich darin ein hoher Anteil an kosmischen Neutrinos befinden.“ Seit 2010 hat IceCube rund 80 hochenergetische Neutrinos detektiert, bei denen eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass sie kosmischen Ursprungs sind. Sie alle haben eine sehr hohe Energie (30 bis 2600 TeV) – das ist ein Vielfaches der Energie, die Elementarteilchen im LHC-Teilchenbeschleuniger des CERN erreichen.


„Wir möchten herausfinden, woher diese Neutrinos genau stammen“, sagt Tessa Carver. Um die Herkunft zu bestimmen, verwenden die Wissenschaftler die Informationen, die ihnen das IceCube- Experiment zur Verfügung stellen. Da jedes aus dem Kosmos eintreffende Neutrino von mehreren IceCube-Modulen erfasst wird, lässt sich deren Richtung schätzungsweise bestimmen. Verfolgt man dann die Flugbahn rückwärts, weiss man, aus welcher Richtung das Neutrino kommt. „Wir wählen gewisse Ort im Himmel aus, von denen wir aus anderen Experimenten wissen, dass sich dort interessante Quellen befinden. Dann schauen wir, ob wir eine relevante Menge von Neutrino-Ereignissen haben, die aus der entsprechenden Richtung kommen“, erklärt Carver.


Ein neuer Blick auf das Universum


Eine definitive Antwort auf die Frage nach der Herkunft der kosmischen Neutrinos haben die Genfer Astroteilchen-Physiker bisher nicht gefunden. Es werden verschiedene Ideen diskutiert, woher die Neutrinos stammen könnten. Eine mögliche Quelle sind sogenannte Blazare, eine Art von Galaxien, die aus ihrem Zentrum sehr viel hochenergetische Strahlung aussenden. Eine andere Hypothese ist, dass die Neutrinos aus den Überbleibseln von Supernovae stammen. Das IceCube-Experiment wird kontinuierlich betrieben und liefert immer neue Daten. Je mehr dieser Daten ausgewertet werden, desto besser lasse sich die Frage nach dem Ursprung der kosmischen Neutrinos klären, sagt Tessa Carver. Die Wissenschaftler sind heute zuversichtlich, Neutrinos künftig als Instrument nutzen zu können, um die Geheimnisse des Kosmos zu lüften. „Lange Zeit konnten wir für die Beobachtung des Universums nur sichtbares Licht, andere elektromagnetische Wellen bzw. geladene Teilchen nutzen. Heute stehen wir am Beginn einer neuen Art, aufs Universum zu blicken. Gravitationswellen machen das seit 2015 möglich. Auch Neutrinos könnten vielleicht schon in wenigen Jahren ganz neue Möglichkeiten eröffnen.“ Mädchen für Physik begeistern


Das persönliche wissenschaftliche Ziel von Tessa Carver ist nun aber erst einmal der Abschluss der Doktorarbeit. Bis in einem Jahr, dürfte sie so weit sein. Neben der eigenen wissenschaftlichen Karriere kümmert sich die Forscherin der Universität Genf auch um die Förderung des weiblichen Nachwuchses. Mit verschiedenen Aktivitäten im Rahmen des EU-Projekts GENERA versucht sie Mädchen für die Naturwissenschaften und insbesondere die Physik zu begeistern. „Im IceCube-Experiment arbeiten rund 25% Frauen. Das ist viel im Vergleich zu anderen Physikexperimenten. Das zeigt, wie viel bei der Förderung von Naturwissenschaftlerinnen noch zu tun ist“, sagt Tessa Carver.


Autor: Benedikt Vogel

Die Astroteilchenphysikerin Tessa Carver (24) schreibt an der Universität Genf ihre Doktorarbeit im Bereich der Neutrino-Forschung.
Die Astroteilchenphysikerin Tessa Carver (24) schreibt an der Universität Genf ihre Doktorarbeit im Bereich der Neutrino-Forschung.Bild: privat / privata / private

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