Antworten der Wissenschaft auf häufige Fragen zur Biodiversität
Über Fragen der Biodiversität wird weltweit und gerade auch in der Schweiz intensiv diskutiert. Zu vielen Antworten gibt es eine gute Datenbasis und einen breiten wissenschaftlichen Konsens. Das Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften beantwortet nachfolgend die wichtigsten Fragen.
Stand: August 2024
Biodiversität an sich
Die Biodiversität ist die Vielfalt des Lebens – auf der ganzen Erde, in einem Land oder einfach in einem Garten. Entstanden in mehr als 3,5 Milliarden Jahren natürlicher Evolution, bildet die Biodiversität die wichtigste Grundlage der menschlichen Existenz. Im Allgemeinen werden drei Ebenen der Biodiversität unterschieden:
- Vielfalt der Arten: von Bakterien und Pilzen über Gämsen und Wildbienen bis hin zum Edelweiss;
- Vielfalt der Lebensräume: z. B. Wiesen, Wälder, Seen, Flüsse oder Moore;
- Genetische Vielfalt, d. h. wie unterschiedlich die Individuen einer Art sind.
Manchmal wird auch von einer vierten Ebene der Vielfalt gesprochen: die Beziehungen zwischen Arten sowie zwischen Arten und ihrer Umwelt. Dazu gehören etwa Räuber-Beute-Beziehungen oder die Bestäubung. Interaktionen können komplex sein und über Wirkungsketten können sich Arten beeinflussen, die nicht direkt interagieren. Das reibungslose Funktionieren von Lebensräumen hängt von der Stabilität dieser Interaktionen ab.
Ja. Sowohl in der Schweiz als auch weltweit geht die Biodiversität insgesamt klar zurück. Die Bestände vieler Arten schrumpfen nach wie vor oder sind regelrecht eingebrochen. Die Bestände gewisser Arten nehmen aber auch zu.
Wegen menschlicher Aktivitäten sterben zehn bis hundert Mal mehr Arten aus als natürlicherweise zu erwarten wäre (Ceballos et al. 2015), evtl. sogar tausend Mal mehr (Pimm et al. 2014). Weltweit sind mehr als 44'000 Arten oder 28% der bewerteten Arten bedroht (IUCN). In der Folge werden Lebensräume monotoner: Bereits häufige Arten werden häufiger, während seltene Arten weiter zurückgehen (IPBES 2019).
In der Schweiz sind 35% der bewerteten Arten gefährdet oder bereits ausgestorben (245 Arten), 12% sind potenziell gefährdet (BAFU 2023). Das bedeutet, dass für fast die Hälfte der 10'844 bewerteten Arten Erhaltungsmassnahmen notwendig sind. Auch bei den Lebensräumen ist die Lage besorgniserregend: Von den 167 in der Schweiz bewerteten Lebensraumtypen sind 48% gefährdet und 13% werden als potenziell gefährdet eingestuft (Delarze et al. 2016).
So kritisch das Gesamtbild ist, die Populationen gewisser Arten nehmen zu (Vogelwarte Sempach 2024 oder Widmer et al 2021). Auch innerhalb einer Artengruppe können sich Arten sehr unterschiedlich entwickeln (z.B. Gewinner und Verlierer aufgrund von steigenden Temperaturen). Entsprechend stehen gewisse Biodiversitätsindikatoren auf «grün» und andere auf «rot» (vgl. verschiedene Indikatoren für Landschaft oder für Biodiversität). Dennoch bedeutet ein Aufwärtstrend im Bestand einer Art noch keine allgemeine Trendwende. Die systematische Datenerhebung begann erst in den 1990er Jahren, als die Biodiversität und Lebensräume schon in sehr schlechtem Zustand waren (Lachat et al. 2010).
- Ceballos et al. 2015: Accelerated modern human–induced species losses: Entering the sixth mass extinction.
- Pimm et al. 2014: The biodiversity of species and their rates of extinction, distribution, and protection.
- IUCN red list
- IPBES 2019: Das globale Assessment der Biologischen Vielfalt und Ökosystemleistungen. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger.
- BAFU (2023) Gefährdete Arten und Lebensräume in der Schweiz
- Delarze et al. 2016: Gefährdete Lebensräume der Schweiz.
- Vogelwarte Sempach 2024: Zustand der Vogelwelt in der Schweiz, Bericht 2024.
- Widmer et al 2021: Bericht Insektenvielfalt in der Schweiz
- Indikatoren Landschaft (BAFU)
- Indikatoren Biodiversität (BAFU)
- Lachat et al. 2010: Wandel der Biodiversität in der Schweiz seit 1900. Ist die Talsohle erreicht?
Bei der Bewertung der Biodiversitätskrise muss zwischen Zustand und Entwicklung unterschieden werden. Es gibt Tier- und Pflanzenarten, deren Entwicklung in den letzten Jahren dank grosser Anstrengungen oder wegen des Klimawandels eindeutig positiv ist. Der Zustand dieser Art oder der Biodiversität generell kann dennoch kritisch sein: Wenn in einem Gebiet von 100 ha durchschnittlich ein Feldhase lebte und neu zwei, dann ist das eine Verdoppelung. Die Entwicklung ist also positiv, der Bestand aber immer noch zu klein, um langfristig stabile Populationen zu bilden. Es muss uns daher gelingen, durch positive Entwicklungen auch einen positiven Zustand zu erreichen.
In diesem Zusammenhang ist auch zentral, welchen Zeitraum wir betrachten: In der Schweiz haben die grössten Biodiversitätsverluste Mitte des 20. Jahrhunderts stattgefunden. So gingen seit dem 19. Jahrhundert u.a. 90% der Moore, 90% der Trockenwiesen und -weiden sowie 70% der Auen verloren (Lachat et al. 2010). Wenn es einigen Arten wieder besser geht als noch vor wenigen Jahren, bedeutet dies nicht, dass ihr Bestand wieder gesund ist (z.B. Steinkauz).
Ja. Ökosysteme mit einer reichen Artenvielfalt können sich nach Umweltstörungen besser auffangen und rascher erholen. So sind beispielsweise Parasitenausbrüche in vielfältigen Ökosystemen selten, während sie in eintönigeren Systemen wie Wüsten oder Landwirtschaftsgebieten relativ häufig vorkommen (Hatton et al., 2024). Ebenso sind Wälder mit hoher Biodiversität widerstandsfähiger und erholen sich leichter von den Auswirkungen des Klimawandels als stark vom Menschen veränderte Wälder oder Plantagen (Thompson et al., 2009).
Der Verlust und die Zerschneidung von Lebensräumen sowie die Beeinträchtigung ihrer ökologischen Qualität durch intensive landwirtschaftliche Nutzung, Bautätigkeiten (Bodenversiegelung) und die Nutzung der Gewässer setzen die Biodiversität in der Schweiz unter Druck. Die Qualität der Lebensräume wird auch durch übermässigen Stickstoffeintrag sowie Verschmutzungen, u.a. durch Pestizide, gemindert (BAFU 2022). Beispielsweise überschreitet der Stickstoffeintrag in zwei Dritteln der empfindlichen Lebensräume den kritischen Schwellenwert (BAFU 2022). Zudem wirken sich auch in der Schweiz der Klimawandel und insbesondere in Gewässern invasive gebietsfremde Arten immer stärker auf die Biodiversität aus. Die genannten direkten Ursachen sind letztlich die Folgen unseres Lebensstils, also unserer Produktions- und Konsummuster (Ernährung, Wohnen, Mobilität, Handel), des Bevölkerungswachstums und der lokalen bis globalen Politik (IPBES 2019).
Auch Arten, die aus menschlicher Sicht «schädlich» sind (z. B. Schädlinge in der Landwirtschaft, Zecken, Mücken) gehören zur Biodiversität. Wenn sich in einem Ökosystem ein schädlicher Organismus plötzlich stark vermehrt, ist dies oft ein Zeichen für eine Störung. Auch gebietsfremde invasive Arten gehören zur Biodiversität. Da sie jedoch per Definition zu Kosten und Schäden (ökologisch, ökonomisch, gesundheitlich) führen, versucht man ihre Einfuhr und Ausbreitung möglichst einzuschränken (BAFU 2022).
Folgen für uns Menschen
Die Biodiversität schafft unsere Lebensgrundlagen: Die Bestäubung von Pflanzen, die Reinigung von Luft und Wasser, die Bodenbildung, der Schutz vor Hochwassern und Lawinen oder die Klimaregulierung. Viele medizinische Wirkstoffe stammen aus der Natur, und eine reiche Biodiversität erhöht die Chancen, neue Heilmittel zu entdecken. Eine hohe Biodiversität spielt eine entscheidende Rolle, um übertragbare Krankheiten wie Zoonosen einzudämmen und nicht übertragbaren Krankheiten wie Allergien, Asthma und Fettleibigkeit vorzubeugen bzw. deren Folgen zu mindern. Eine vielfältige Natur und Grünräume wirken sich nachweislich positiv auf die psychische Gesundheit aus, was indirekt auch stressbedingten Krankheiten vorbeugt (Forum Biodiversität Schweiz, SCNAT 2019). Darüber hinaus trägt Biodiversität zu unserer kulturellen Identität bei («Heimat») und bietet ästhetischen Genuss sowie Erholungsmöglichkeiten, die unser geistiges und körperliches Wohlbefinden fördern. Vielen Menschen sind zudem das Existenzrecht anderer Lebewesen und die Vielfalt an sich ein wichtiges Anliegen.
Ja, sehr. Weltweit nehmen die Ökosysteme rund die Hälfte des vom Menschen ausgestossenen CO2 wieder auf (Friedlingstein et al. 2023) und verlangsamen so wesentlich den durch den Menschen verursachten CO2 Anstieg in der Atmosphäre. Diese Speicherfähigkeit der Natur lässt mit dem Verlust an Biodiversität jedoch nach (Weiskopf et al 2024). Gleichzeitig ist der Klimawandel bereits jetzt einer der wichtigsten Treiber des Biodiversitätsverlusts, weshalb Klima- und Biodiversitätsschutz voneinander abhängen.
Die Pflege intakter und die Wiederherstellung beeinträchtigter Lebensräume, insbesondere von Mooren, hilft die zum Teil grossen Mengen an Kohlenstoff dauerhaft zu speichern oder sogar mehr CO2 zu fixieren (Ismail et al. 2021). Solche sogenannten naturbasierten Massnahmen («Nature based Solutions») können auch in Form von naturnahen Grünräumen und Wasserflächen in Städten oder in landwirtschaftlich genutzten Gebieten umgesetzt werden. Sie wirken dem Biodiversitätsverlust entgegen und reduzieren zusätzlich den CO2-Gehalt in der Atmosphäre. Nicht zuletzt helfen diese Massnahmen sich an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. So reduzieren Schutzwälder, Flussrevitalisierungen oder Moorvernässungen die Folgen von Dürren, Stürmen und Überschwemmungen. Im Siedlungsraum tragen naturbasierte Massnahmen zu angenehmeren Temperaturen und zur Regulierung des Wasserhaushaltes bei. Die Begrünung von Städten hat erhebliche positive Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Dank sauberer Luft und weniger Hitze steigt das Wohlbefinden und es gibt weniger Todesfälle (Barboza et al 2021).
- Friedlingstein et al. 2023: Global Carbon Budget
- Weiskopf et al 2024: Biodiversity loss reduces global terrestrial carbon storage
- Ismail et al. 2021: Klimawandel und Biodiversitätsverlust gemeinsam angehen
- Nature based solutions, IUCN
- Barboza et al. 2021: Green space and mortality in European cities: a health impact assessment study.
Die Landwirtschaft ist auf eine gesunde Biodiversität angewiesen (FAO 2019). Um Nahrungsmittel zu produzieren, braucht es z. B. eine natürliche Schädlingsregulierung, die Bestäubung von Kultur- und Wildpflanzen durch Insekten, die Förderung der Bodenfruchtbarkeit, einen Schutz vor Erosion und Trockenheit und den Auf- und Abbau von Pflanzenbiomasse. Artenreiche Flächen und Strukturen in Agrarlandschaften sind ein Reservoir für die biologische Vielfalt, einschliesslich Vögeln und Insekten, die Nutzpflanzen bestäuben, Schädlinge bekämpfen, die Bodenfruchtbarkeit verbessern, die Auswirkungen von Trockenheit verringern und Wasser zurückhalten. Die genetische Vielfalt von Kulturpflanzen und Nutztieren wie auch wildlebender Arten bietet einen Vorrat für die weitere Pflanzenzüchtung und damit eine weitere wichtige Basis für ein anpassungsfähiges und resilientes Landwirtschafts- und Ernährungssystem.
In typischen Schweizer Tourismusregionen bietet eine hohe Biodiversität die Grundlage für Naturerlebnisse und Erholung und somit für den Tourismus (Ketterer Bonnelame und Siegrist 2014). Beispielsweise bezeichnen die meisten Besucher:innen von Naturpärken eine schöne Landschaft, intakte Natur und Ruhe vor dem Alltag als wichtigste Beweggründe für ihren Aufenthalt (Knaus 2018). Während der Tourismus von der Biodiversität profitiert, hat der Tourismus wesentliche negative Einflüsse auf die Biodiversität, vor allem in den alpinen Gebieten und in der Kulturlandschaft (Ketterer Bonnelame und Siegrist 2014). In der Tourismusstrategie des Bundesrates wird die Verantwortung des Tourismus anerkannt, seine negativen Auswirkungen auf die Biodiversität zu minimieren (Bundesrat 2021).
Handeln
Es gibt unzählige Beispiele, die zeigen, dass Naturschutzmassnahmen wirken (Conservation Evidence). Auch in der Schweiz: verschiedene Vogelarten wurden wirksam gefördert (SBI Prioritätsarten Artenförderung). Im Kanton Aargau konnte dank Hunderter neuer Teiche der regionale Rückgang der meisten Amphibienarten gestoppt oder sogar umgekehrt werden (Moor et al., 2022).
Auch die ersten Ergebnisse des Monitoringprogramms «Arten und Lebensräume Landwirtschaft» ALL-EMA zeigen, dass der Artenreichtum in Biodiversitätsförderflächen (BFF) höher ist als auf der übrigen landwirtschaftlichen Nutzfläche und dass die Biodiversität mit dem Qualitätsniveau der BFF zunimmt (Agrarbericht 2021).
Das Monitoringprogramm «Wirkungskontrolle Biotopschutz» der Biotope von nationaler Bedeutung zeigt, dass sich der Zustand von Mooren im Mittelland in den letzten Jahren dank Moorregenerationen verbessert hat (Bergamini et al. 2019).
Viele Moore trocknen jedoch weiterhin schleichend aus. Dies zeigt exemplarisch die Problematik der Biodiversitätsförderung in der Schweiz: Wirksame Massnahmen sind bekannt, werden aber zu punktuell umgesetzt, um den Zustand der Biodiversität schweizweit zu verbessern. Zudem ist die Wirkung von schädlichen Aktivitäten (z.B. Konsum- und Produktionsmuster, schädliche Subventionen) oft grösser als jene der Biodiversitätsförderung.
- Conservation Evidence
- Swiss Bird Index SBI, SBI Prioritätsarten Artenförderung
- Moor et al 2022: Bending the curve: Simple but massive conservation action leads to landscape-scale recovery of amphibians.
- Agrarbericht 2021
- Bergamini et al. 2019: Zustand und Entwicklung der Biotope von nationaler Bedeutung: Resultate 2011-2017 der Wirkungskontrolle Biotopschutz Schweiz
Nein. Dies zeigen etwa die 2023 veröffentlichten Berichte des Bundesamtes für Umwelt BAFU zum Zustand der Biodiversität in der Schweiz («Synthese der Roten Listen» und «Zustand und Entwicklung der Biodiversität in der Schweiz»). Auch die Wirkungsanalyse des Aktionsplans Biodiversitätsstrategie Schweiz und der Kurzbericht der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (GPK-S) von 2021 halten fest, dass die Anstrengungen der Schweiz nicht ausreichen, um die Biodiversität wirksam zu erhalten.
Es werden mehrere Gründe genannt, darunter Umsetzungs- und Vollzugsdefizite: 2021 waren die Schutz- und Pflegemassnahmen nur bei 17% der Biotope von nationaler Bedeutung vollständig umgesetzt (BAFU 2023). Auch der Mangel an personellen Ressourcen, die dem BAFU für die Umsetzung des Aktionsplans der Strategie Biodiversität Schweiz zugewiesen wurden, Lücken bei den Massnahmen zum Schutz der Biodiversität im Bereich der Landwirtschaft und die Auswirkungen von Bundessubventionen mit biodiversitätsschädigender Wirkung wurden bemängelt (Kurzbericht GPK-S 2021).
Die gesetzlichen Grundlagen sind vorhanden und wirksame Massnahmen erprobt. Um die Ziele der Biodiversitätsstrategie tatsächlich zu erreichen, müssen schweizweit einerseits Fördermassnahmen ausgeweitet und besser aufeinander abgestimmt und andererseits die Biodiversität schädigende Aktivitäten reduziert werden. Nur so lässt sich die Biodiversität langfristig sichern.
Diese Ausweitung bestehender Ansätze ist anspruchsvoll. Einige wichtige Hebel dazu sind jedoch bekannt. So gilt es, die erheblichen Vollzugs- und Umsetzungsdefizite (BAFU 2023, Interface 2013) zu beseitigen. Entscheidend dafür sind ausreichende personelle und finanzielle Mittel für die Förderung der Biodiversität sowie für die Sicherung, den Unterhalt und die Sanierung von Schutzgebieten und einer funktionierenden ökologischen Infrastruktur.
Alle Sektoren der Wirtschaft müssen Potenziale zur Förderung der Biodiversität wahrnehmen und umgekehrt ihre negativen Auswirkungen anerkennen und möglichst vermeiden. Der Bund hat einen starken Hebel, um den Wandel der Wirtschaft anzukurbeln: z. B. durch die Umgestaltung der mindestens CHF 40 Mrd. an direkten und indirekten Subventionen, die er für zumindest teilweise biodiversitätsschädigende Aktivitäten gewährt (Gubler et al. 2020).
Weiterführende Informationen zu zentralen Handlungsfeldern enthalten die Berichte «Relevanz der IPBES-Handlungsoptionen für Sektoren in der Schweiz» und «Was die Schweiz für die Biodiversität tun kann».
- BAFU 2023: Wirkung des Aktionsplans Biodiversität AP SBS
- Interface 2013: Stärkung des Vollzugs im Umweltbereich.
- Gubler L, Ismail SA, Seidl I (2020) Biodiversitätsschädigende Subventionen in der Schweiz
- Forum Biodiversität Schweiz (SCNAT), Interface Politikstudien (2020) Relevanz der IPBES-Handlungsoptionen für Sektoren in der Schweiz
- Forum Biodiversität Schweiz (SCNAT), Interface Politikstudien (2022) Was die Schweiz für die Biodiversität tun kann – Handlungsoptionen für ausgewählte Sektoren
Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar, dass der Rückgang der Biodiversität nur gestoppt werden kann, wenn genügend hochwertige und miteinander vernetzte Flächen zur Verfügung stehen. Mehrere Studien gehen davon aus, dass international wie auch in der Schweiz rund 30% der Fläche einer Region mit Vorrang für die Biodiversität nötig sind (Guntern et al., 2013; Rutishauser et. al, 2023). Diese Flächen können durchaus genutzt werden, solange die Biodiversität dadurch nicht langfristig beeinträchtigt wird. Dazu zählen etwa Biodiversitätsförderflächen in der Landwirtschaft, die Renaturierung von Gewässern, die Entwicklung von artenreichen Grünflächen im Siedlungsraum sowie Altholzinseln im Wald. Um die Biodiversität wirklich erhalten und fördern zu können, braucht es neben solchen Flächen einerseits auch Schutzgebiete mit Nutzungseinschränkungen; und andererseits muss die Biodiversität flächendeckend berücksichtigt werden, etwa auch in Siedlungsgebieten.
Die ökologische Infrastruktur ist ein Netzwerk von bedeutenden Flächen für die Biodiversität. Dazu gehören zum Beispiel Auengebiete, Moore, ökologische hochwertige Biodiversitätsförderflächen in der Landwirtschaft, Naturwaldreservate und teilweise auch artenreiche Grünflächen in Siedlungsgebieten. Bund, Kantone und Gemeinden sind aktuell daran, die ökologische Infrastruktur zu planen und umzusetzen. Zusammen mit einer naturverträglichen Nutzung aller Landflächen und Gewässer sowie spezifischen Artenförderungsmassnahmen soll die ökologische Infrastruktur die biologische Vielfalt in der Schweiz langfristig erhalten und fördern.
Wie viel es kosten würde, den Biodiversitätsrückgang zu stoppen, lässt sich nur schwer beziffern. Sämtliche verfügbaren Studien zeigen jedoch, dass es langfristig günstiger ist, die Biodiversität zu schützen als die Folgen einer beeinträchtigten Natur zu tragen (IPBES 2022). Klar ist zudem, dass die Schweiz heute zu wenig in die Erhaltung und Förderung der Biodiversität investiert. Für Biotope von nationaler Bedeutung lässt sich diese unzureichende Finanzierung exemplarisch aufzeigen: Auch wenn die Bundesausgaben im Bereich Natur und Landschaft seit 2017 zugenommen haben (Subventionsdatenbank), reichen die finanziellen Mittel nicht einmal für die gesetzeskonforme Erhaltung der Biotope von nationaler Bedeutung (Hochmoore, Flachmoore, Auen, Amphibienlaichgebiete und Trockenwiesen und -weiden) (Ismail et al. 2009, Martin et al 2017). Umgekehrt könnte bei den hohen direkten und indirekten Bundessubventionen mit biodiversitätsschädigender Wirkung von mindestens CHF 40 Mrd. pro Jahr erheblich gespart und damit gleichzeitig die Biodiversität gefördert werden. Zur Zeit kosten Subventionen mit biodiversitätsschädigender Wirkung den Bund rund 40 bis 80-mal mehr, als er direkt für die Biodiversität ausgibt (Gubler et al. 2020).
- IPBES 2022: Das methodische Assessment über die vielfältigen Werte und die Bewertung der Natur.
- Subventionsdatenbank
- Ismail et al 2009: Kosten eines gesetzeskonformen Schutzes der Biotope von nationaler Bedeutung.
- Martin, M., Jöhl, R. et al. (2017) Biotope von nationaler Bedeutung - Kosten der Biotopinventare
- Gubler L, Ismail SA, Seidl I (2020) Biodiversitätsschädigende Subventionen in der Schweiz
Ja. Investitionen in Naturschutz haben wesentliche positive Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft, insbesondere in Randregionen (BAFU 2020). Laut einer Studie der europäischen Kommission für das neue EU Renaturierungsgesetz erzeugt jeder Euro, der in die Renaturierung investiert wird, einen wirtschaftlichen Wert von 8 bis 38 Euro (European Union 2022). Zudem haben Versicherungsgesellschaften weltweit 510 Milliarden Euro in Unternehmen investiert, die in hohem Masse von Ökosystemleistungen abhängig sind (SwissRe 2020). Dies zeigt, dass weite Teile der Wirtschaft direkt von funktionierenden Ökosystemen abhängen.
Weil immer mehr verbaut wird, ist Kulturland in der Schweiz zunehmend knapp. Sowohl die landwirtschaftliche Produktion als auch die Biodiversität ist auf Kulturland angewiesen. Für die Schweiz ist es deshalb wichtig, die noch vorhandenen Flächen multifunktional und standortangepasst zu nutzen (WBGU 2020).
Die Biodiversität im Landwirtschaftsgebiet wurde über mehrere Jahrhunderte durch verschiedene extensive Bewirtschaftungsweisen geprägt. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts intensivierte sich die Bewirtschaftung stark (Stoate et al. 2000). Heute existieren viele typische Landwirtschaftsarten nur noch dank Fördermassnahmen (Lachat et al. 2010). Deshalb sind neben der nachhaltigen Bewirtschaftung sowohl ausreichend viele, hochwertige und vernetzte Biodiversitätsförderflächen (BFF) als auch andere Massnahmen auf den Produktionsflächen nötig, um die Lebensgemeinschaften des Landwirtschaftsgebietes zu erhalten (Walter et al. 2013).
Auf BFF lassen sich kurzfristig oft weniger Nahrungs- und Futtermittel pro Fläche produzieren. Sie tragen aber längerfristig dazu bei, die Produktionskapazität zu erhalten. Mit BFF werden nicht nur die Biodiversität selbst, sondern auch verschiedene für die landwirtschaftliche Produktion wichtige Leistungen wie die Bodenfruchtbarkeit, natürliche Schädlingsregulierung und Bestäubung gefördert (Stöckli et al. 2024). Ihre Erhaltung und Förderung ist zentral für ein anpassungsfähiges und robustes Landwirtschaftssystem.
Lösungsansätze für die Vereinbarung von Produktion und Biodiversitätsförderung existieren. Dazu gehören die multifunktionale und standortangepasste Landnutzung, agrarökologische Produktionssysteme, die Verringerung von Lebensmittelabfällen und ein verstärkter Fokus auf Produktion und Konsum pflanzlicher anstelle tierischer Nahrungsmittel, wodurch der Flächenbedarf reduziert werden kann. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Produktion, Vermarktung und Konsum Hand in Hand gehen müssen.
- WBGU 2020: Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration.
- Stoate et al. 2001: Ecological impacts of arable intensification in Europe.
- Lachat et al. 2010: Wandel der Biodiversität in der Schweiz seit 1900. Ist die Talsohle erreicht?
- Walter et al. 2013: Operationalisierung der Umweltziele Landwirtschaft: Bereich Ziel- und Leitarten, Lebensräume (OPAL)
- Stöckli et al. 2024: Biodiversitätsförderflächen im Ackerland und was sie bewirken.
Der Konsum in der Schweiz beeinträchtigt in grossem Mass auch die globale Biodiversität. Während der Anteil des Schweizer Biodiversitäts-Fussabdrucks in der Schweiz gesunken ist, hat der Druck auf die Biodiversität im Ausland durch den Schweizer Konsum in den letzten Jahren stark und stetig zugenommen (Frischknecht et al. 2018). Über 70% der Fläche, die die Schweiz aktuell für ihren Konsum braucht, liegen ausserhalb ihrer Landesgrenzen (Yu et al 2013). So benötigt z.B. die Nachfrage der Schweiz nach den acht wichtigen Rohstoffen Kakao, Kokosnuss, Kaffee, Palmöl, Zellstoff /Papier, Soja (ca. 80% davon für Futtermittel), Zuckerrohr und Holz zwischen 2015 und 2019 eine Fläche im Ausland, die dreimal so gross ist wie die Schweiz selbst. Viele dieser Länder leiden unter starker Entwaldung (3Keel/WWF 2020).
Je weniger Nahrungsmittel und andere Konsumgüter (z.B. Kleidung) die Schweiz importiert, desto geringer sind potenziell die Umweltschäden im Ausland. Die Importmenge ist wiederum vom Konsum und der Produktion in der Schweiz abhängig. Gerade bei der Ernährung hätte eine Anpassung des Konsums grosses Potenzial. So gehen bis zu 30% der gekauften Lebensmittel aus dem In- und Ausland verloren, ein Grossteil davon wird von den Endkonsument:innen weggeworfen. Eine auch nur geringe Umstellung auf mehr pflanzenbasierte Ernährung hat ebenfalls ein grosses Potential, da aktuell 60% der Anbauflächen für Tierfutter verwendet werden (Fesenfeld et al 2023).
Ob die Förderung der Biodiversität die Produktion von Nahrungsmitteln reduziert, hängt vom betrachteten Zeitraum ab: Kurzfristig ist dies teils der Fall, langfristig ist die Biodiversität im Gegenteil der Garant für die Nahrungsmittelproduktion.
Wichtig ist zudem die Mitverantwortung der Schweiz für die weltweiten Anstrengungen zur Förderung der Biodiversität.
- Frischknecht et al. 2018: Umwelt-Fussabdrücke der Schweiz. Zeitlicher Verlauf 1996-2015.
- YU et al. 2013: Tele-connecting local consumption to global land use.
- 3Keel/WWF 2020: Assessing the deforestation impact of Switzerland’s commodity imports overseas.
- Fesenfeld et al 2023: Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz - Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem.
Der Klimawandel ist bereits jetzt die drittwichtigste und voraussichtlich ab 2050 die wichtigste Ursache des globalen Biodiversitätsrückgangs (IPBES 2019). Deshalb wirken Massnahmen gegen den Klimawandel wie die Förderung erneuerbarer Energien langfristig auch dem Biodiversitätsverlust entgegen. In der Schweiz haben Solaranlagen auf und an Gebäuden und bestehenden Infrastrukturen das weitaus grösste Gesamtpotenzial für erneuerbare Energieproduktion (Boulouchos et al., 2022) und das geringste Konfliktpotenzial mit Biodiversität. Trotzdem können zusätzliche Wasser-, Wind- und Solaranlagen ausserhalb der Bauzonen eine wichtige Ergänzung auf dem Weg zur Dekarbonisierung der Energieversorgung sein. Bei solchen Anlagen lassen sich durch die Wahl des Standortes auf bereits degradierten oder anderweitig ökologisch wenig wertvollen Flächen die Konflikte minimieren (Neu, Ismail und Reusser 2024). Am besten für die Biodiversität ist es jedoch, den Energieverbrauch und dadurch den Bedarf für die Stromproduktion zu senken.
- IPBES 2019: Das globale Assessment der Biologischen Vielfalt und Ökosystemleistungen. Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger.
- Boulouchos et al 2022: Schweizer Energiesystem 2050 (Kurzfassung) Wege zu netto null CO2 und Versorgungssicherheit
- Neu U, Ismail S, Reusser L (2024) Ausbau erneuerbarer Energien biodiversitäts- und landschaftsverträglich planen
Die Schweiz hat viele Möglichkeiten, die Biodiversität international zu fördern: durch den Einfluss auf Wirtschaftsbranchen (z.B. Rohstoffe), durch Anpassung des Konsums, durch Engagement im Rahmen der UNO und des Weltbiodiversitätsrates IPBES, durch Förderung von Schutzmassnahmen in Schwellen- und Entwicklungsländern und von Forschungsprojekten.
Jedes Land trägt darüber hinaus eine besondere internationale Verantwortung für Arten, deren Verbreitungsgebiet ganz oder überwiegend auf seinem Territorium liegt. Die Schweiz hat viele verschiedene Landschaften und deshalb eine hohe Artenvielfalt auf kleinem Raum. Auch leben hier viele Lebensraumspezialisten, wie z.B. kälteliebende alpine Arten. In der Schweiz wurden basierend auf dem nationalen Gefährdungsgrad (Rote Listen) und der internationalen Verantwortung national prioritäre Arten definiert. Von den 10'700 beurteilten Arten gelten 3’665 Arten (34 %) als national prioritär. Für 10 % der national prioritären Arten trägt die Schweiz eine sehr hohe oder eine hohe internationale Verantwortung, und für 22% besteht ein klarer Massnahmenbedarf wie z.B. Artenförderungsprogramme (BAFU, 2019). Auch von den 167 Lebensraumtypen sind 98 (59%) national prioritär, wovon für 28 % die Schweiz eine hohe bis mittlere internationale Verantwortung hat. Arten und Lebensräume mit höchsten Prioritäten kommen in Gewässern und ihren Ufern, Feuchtgebieten, inkl. Hochmooren, Wäldern, auf Ruderalflächen und extensiv genutzten Landwirtschaftsflächen vor. Die Flächen mit den meisten prioritären Pflanzenarten befinden sich in den Alpen.
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