Das Webportal «SCNAT wissen» schafft Orientierung. Die Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) und ihr Netzwerk stellen den Stand des Wissens zusammen, auf Basis solider wissenschaftlicher Resultate und mit Bezug zur Schweiz – zuhanden von Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Praxis.mehr

Bild: Tobias Günther, SNSF Scientific Image Competitionmehr

Die Bedeutung von Narrativen für Nachhaltigkeits­transformationen

Grundlage dieses Textes ist eine Literaturanalyse zum Thema von DiGiulio & Defila (2022), ergänzt durch weitere Lesetipps sowie Aussagen aus Interviews mit Forscher:innen.

Was sind Narrative?

«Narrative sind Denk-, Erklärungs- und Interpretationsmuster, die «an die Welt» angelegt werden. Ein Narrativ ist keine fiktive Geschichte mit erfundenen Ereignissen und Akteuren. Ein Narrativ ist eine Darstellung dessen, wie Dinge, die als gegeben und wichtig erachtet werden, die also als relevante Fakten eingestuft werden, zusammenhängen. In einem Narrativ werden Akteure und Phänomene in einen kohärenten, sinnvollen und sinnstiftenden Zusammenhang gebracht (…)» (DiGiulio & Defila 2021: vi).

«Durch Narrative konstruieren und rekonstruieren Menschen die Welt. Die Forschung zu Narrativen betrachtet den Menschen als «homo narrans», d.h., sie geht davon aus, dass Menschen ihr Selbstbild und ihr Wissen in Narrative fassen und dass sie Narrative verwenden, um über ihre Identität und ihr Wissen zu kommunizieren und ihr Handeln zu begründen. Und das gilt ebenso für institutionelle, organisationale und staatliche Akteure» (DiGiulio & Defila 2021: vi).

Wie wirken Narrative?

DiGiulio & Defila (2022: vi) identifizieren vier Arten, wie Narrative wirken:

  • «Narrative sind erkenntnisleitend und tradieren Wissen: Narrative beeinflussen, welche Themen und Phänomene als relevant wahrgenommen werden, welche Probleme gesehen werden, welches Wissen von Bedeutung ist und welche Fragen gestellt werden. Narrative entscheiden darüber, ob Informationen und Ereignisse zur Kenntnis genommen werden und wie diese interpretiert werden.»
  • «Narrative sind identitätsstiftend: Narrative geben dem, was ein Mensch erlebt, wahrnimmt, denkt, fühlt und tut, Sinn. Narrative erzeugen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen und wirken daher sowohl einschließend wie abgrenzend. Narrative sind nicht nur für Individuen identitätsstiftend, sondern auch für Gruppen und Organisationen innerhalb einer Gesellschaft und für ganze Nationen.»
  • «Narrative sind handlungsleitend und politikleitend: Narrative beeinflussen, welche Prioritäten gesetzt werden und welche Handlungsoptionen überhaupt in Betracht gezogen werden. Sie bestimmen den «politischen Denkraum», indem sie den Rahmen abstecken, in dem sich politische Optionen bewegen können.»
  • «Narrative sind mobilisierend: Narrative zeigen auf, was Menschen (als Individuen und zusammen mit Gleichgesinnten) bewegen und erreichen können, sie stellen Anreize und Gründe zur Verfügung, aktiv zu werden.»

Was sind wirkungsmächtige Narrative für Nachhaltigkeitstransformationen?

Narrative beeinflussen, was als relevant wahrgenommen wird, wie Prioritäten gesetzt werden, und was jede:r sich zutraut, zusammen mit Gleichgesinnten zu bewegen. Das Potenzial von Narrativen wird in Nachhaltigkeitsthemen noch nicht ausgeschöpft.

DiGiulio & Defila (2022) fassen Literatur zu Barrieren für die Wirkungsmacht bestehender Narrative zusammen und formulieren evidenz-informierte Vorschläge für alternative Narrative:

gängige Narrativealternative Narrative

In der Kommunikation zu Nachhaltigkeitsthemen werden oft in distanzierter Sprache wissenschaftlich gewonnene Fakten aneinandergereiht.

Es braucht Narrative mit Erlebnisgehalt (vgl. DiGiulio & Defila 2022: viii), die Fakten in einen erzählerischen Ablauf bringen. Themen gilt es mit der Lebens- und Alltagsrealität von Menschen, deren Identitäten, Überzeugungen und Erfahrungen zu verbinden.
Die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen ist oft durch einen einzigen Typ Wissen geprägt, und zwar durch wissenschaftliches Wissen. Zudem sehen solche Wissenschafts-Narrative oft nur einen einzigen Erzählstandort vor, d.h., es gibt eine einzige «richtige» Erzählung.Es braucht mehrstimmige Narrative mit verschiedenen Erzählstandorten (vgl. DiGiuilio & Defila, 2022: viii), wo unterschiedlich positionierte Akteur:innen jeweils ihren Teil der Geschichte erzählen und in welchen verschiedene Typen und Quellen von Wissen integriert werden.
Nachhaltigkeitsthemen werden in der Kommunikation zu oft in negativ gefärbte Narrative gekleidet, die keine Visionen transportieren und wenig Potential haben, eine positive emotionale Reaktion auszulösen. D.h., Handlungsbedarf wird durch (drohende) Schädigungen – selten durch wünschenswerte Zukünfte – begründet (pathogenetischer Ansatz).Es braucht positive (salutogenetische) Narrative (vgl. DiGiulio & Defila 2022: ix), die eine erreichbare Vision für die Zukunft formulieren.

Die Kommunikation von Nachhaltigkeitsthemen transportiert für Menschen zu oft die Botschaft, dass alles, was sie bisher getan haben und was ihnen vertraut ist, falsch ist. Diese «Demontage ihrer Identität» (vgl. DiGiulio & Defila 2021: ix) löst in Menschen eher Ablehnung aus.

Es braucht anpassungsfähige Narrative mit Erlebnisgehalt (DiGiulio & Defila 2022: vii), welche Menschen für sich passend interpretieren und kontextualisieren können. Die Narrative müssen mit individuellen und bedeutsamen Erlebnissen der Menschen in Beziehung gesetzt werden können («Plausibilisierung») und es ermöglichen, neue Ereignisse konsistent in das Narrativ zu integrieren.
Handlungsbedarfe werden in der Kommunikation zu oft primär durch den Schutz der Umwelt begründet und Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen werden zu oft allein in Umwelt-Kategorien kommuniziert. Es braucht Narrative, welche den Handlungsbedarf auch durch das menschliche Wohlergehen begründen. Narrative werden nämlich dann bedeutsam, wenn sie an Alltagserfahrungen von Menschen anschliessen können und Ereignisse rund um deren Lebensqualität und Gerechtigkeitssinn ansprechen.

Wie werden alternative Narrative erfolgreich?

Der Erfolg eines Narrativs bemisst sich daran, ob es im gesellschaftlichen Diskurs aufgenommen wird, d.h., der Erfolg eines Narrativs ist diskursiver Natur. Er bezieht sich auf die gesellschaftliche Verbreitung und Akzeptanz des Narrativs: «Narrative sind erfolgreich, wenn sie öffentlich kommuniziert und akzeptiert werden sowie wenn sie positiv in die alltägliche Kommunikation eingebettet sind. (…) Ein Zeichen für die diskursive Wirkung eines Narratives ist es, wenn zentrale Akteur:innen, wie zum Beispiel Politiker:innen, gezwungen werden, die rhetorische Macht dieser Narrative anzuerkennen und nicht mehr in öffentlichen Debatten oder Diskussionen teilnehmen können, ohne Bezug auf diese Narrative zu nehmen» (Espinosa et al. 2017, analog auch zu Buschmann & Oels 2019, zitiert in DiGiulio & Defila 2021: 19).

Wie können Forschende zu alternativen Narrativen beitragen?

Neben staatlichen und nicht staatlichen Akteur:innen können auch Wissenschaftler:innen den Erfolg von alternativen Narrativen im Kontext von Nachhaltigkeitsdebatten mitprägen.

Forschende als Botschafter:innen in öffentlichen Diskursen
Botschafter:innen mit sozialem Gewicht können den diskursiven Erfolg eines Narrativs beeinflussen. Dazu gehören Akteur:innen, die als «glaubwürdig, vertrauenswürdig und legitimiert wahrgenommen werden» (DiGiulio&Defila 2022: 19) und über Ressourcenstärke verfügen, d.h. «Fähigkeiten zur Inszenierung, Ausstrahlung und Charisma ebenso wie finanzielle Mittel, die gesellschaftspolitische Macht und Grösse des zur Verfügung stehenden Netzwerkes, in das hineingewirkt und aus dem für Diskurskoalitionen geschöpft werden kann. Viele dieser Eigenschaften, insbesondere Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Legitimität, sind relative Eigenschaften, d.h. Akteur:innen haben diese nur jeweils bezogen auf die Gruppe(n) von Menschen, die ihnen diese Eigenschaften zuschreiben» (ebd.). Botschafter:innen können Politiker:innen, prominente Personen (z.B. Sportler:innen, Influencer:innen) und bekannte Wissenschaftler:innen sein.

Forschende, die positive, mehrstimmige Narrative nähren
Neben den oben genannten Wissenschaftler:innen, die Narrative durch Teilhabe an öffentlichen Diskursen mitprägen, können Forschende auch durch die Wahl von Forschungsfragen und ihrer Haltung in der täglichen Arbeit positive, mehrstimmige Narrative nähren.

Beispiel: transformative Literaturwissenschaften
In einem Gespräch erzählt Claudia Keller, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Zürich, wie Literatur(wissenschaft) zu Nachhaltigkeitstransformationen beitragen kann. Dabei wird das Potenzial der Literaturwissenschaften deutlich, die Mehrstimmigkeit von Narrativen zu nähren sowie den Umgang mit Narrativen zu thematisieren:
«Erzählungen arbeiten an Narrativen, sie ordnen Narrative ein (Werte, Affektkonstellationen), gehen der Frage nach, wie sich auch andere Denkstile einbringen können. Da wird Literatur transformativ.»
«Literatur lädt dazu ein, sich damit auseinandersetzen, warum es Pluralität braucht. Es zeigt sich ja auch bei Narrativen, dass sie erfolgreicher sind, wenn sie von verschiedenen Perspektiven belegt werden können. [Dieser Bedarf nach Mehrstimmigkeit] ist auch ein Zeichen unserer Zeit.»

-> Für Ausführungen zu Zielbildern und dem Vermitteln von Verzicht, siehe Interviewausschnitte.

Beispiel: Wertschätzen und Zuhören
In einem Gespräch zur transformativen Forschung mit Anne Zimmermann vom Centre for Development (CDE) der Universität Bern wird deutlich, wie Forschende in Transformationsprozessen eine Haltung einnehmen können, die positive, mehrstimmige Narrative nähren.
«Meine Motivation ist nicht die Angst, sondern das zu erhalten, was ich liebe.»
«Es ist fundamental, diesen [andersdenkenden] Personen zuzuhören. «Deep Listening», das heisst, sich selbst und seine Ideen zurückzunehmen und wirklich zuzuhören. Man muss zuhören, sie ernst nehmen und anerkennen was sie sagen.»
«Forschende setzen sich [in ihrem Alltag] auch mit Paradigmenwechsel auseinander.»

-> Für weitere Ausführungen zum Umgang mit «Verlierer:innen» von Transformationsprozessen oder Transformation in der Nord-Süd-Forschung siehe Interviewausschnitte.

Wie stehen Narrative und Paradigmen im Verhältnis zueinander?

Ein Paradigma kann als eine Weltsicht, als eine grundsätzliche Denkweise beschrieben werden. Narrative stützen und nähren Paradigmen, die auf einer übergeordneten Ebene verortet werden. Gewisse Autor:innen haben den Begriff «transformative Veränderungen» (transformational change) mit «Paradigmenwechsel» (paradigm shift) ersetzt, wobei diese Begriffe in ihren Bedeutungen quasi identisch sind. Ein wichtiger Erfolgsfaktor für Paradigmenwechsel sind Narrative von Pionier:innen, welche die Machbarkeit, Legitimität und Wünschenswertigkeit der jeweiligen Idee aufzeigen. Das bewegt andere Akteur:innen, sich diese Narrative anzueignen und diese weiter in der Gesellschaft zu verbreiten. Auf diesem Weg können Ideen zum gesellschaftlichen Mainstream und so zu einem neuen dominierenden Paradigma werden (vgl. Mersmann et al. 2014: 8-14).

Hauptquelle:

Das von DiGiulio & Defila (2022, S. 36-37) beschrieben Narrativ «Ernährungssouveränität und schonender Umgang mit der Umwelt durch Agroökologie» findet sich im Fallbeispiel «Agroecological Transitions Group» wieder und nährt das Nachhaltigkeitsparadigma, wonach dauerhafte Bedürfnisbefriedigung durch die Bewahrung der natürlichen Regenerationsfähigkeit der natürlichen und menschlichen Ressourcen gewährleistet werden soll.


In diesem kurzen Text wird das Narrativ «Grüne Wirtschaft» dem Narrativ «Degrowth» gegenüber gestellt.

Ein Paradigma kann als eine Weltsicht, als eine grundsätzliche Denkweise beschrieben werden. Narrative stützen und nähren Paradigmen, die auf einer übergeordneten Ebene verortet werden.
Gewisse Autor:innen haben den Begriff «transformative Veränderungen» (transformational change) mit «Paradigmenwechsel» (paradigm shift) ersetzt, wobei diese Begriffe in ihren Bedeutungen quasi identisch sind. Ein wichtiger Erfolgsfaktor für Paradigmenwechsel sind Narrative von Pionier:innen, welche die Machbarkeit, Legitimität und Wünschenswertigkeit der jeweiligen Idee aufzeigen. Das bewegt andere Akteur:innen, sich diese Narrative anzueignen und diese weiter in der Gesellschaft zu verbreiten. Auf diesem Weg können Ideen zum gesellschaftlichen Mainstream und so zu einem neuen dominierenden Paradigma werden (vgl. Mersmann et al. 2014: 8-14).

In diesem kurzen Video vom International Science Council wird ein Paradigmawechsel im Umgang mit Wildtieren von der «Protected Area Philosophy» zu einer «Convival Conservation», einer sozial gerechten und nachhaltigen Ko-Existenz, beschrieben.

Im «alten» Paradigma wird versucht, (u.a. mit militärischen Mitteln) Menschen und Natur voneinander zu separieren, was soziale Ungleichheit und Biodiversitätsverlust mit sich bringt.

Im Video wird ein neuer, transformativer Ansatz vorgestellt, der anerkennt, dass sich Menschen und Wildtiere viele Ressourcen teilen müssen und Modelle für eine harmonischere, sozial gerechte und nachhaltige Ko-Existenz entwickelt.

«Theatre of Transformation - Enacting Global Transformation» hat zum Ziel, ein kritisches Überdenken der vorherrschenden Machtparadigmen anzuregen und neue Machtparadigmen zu formen. Dazu fördert es kreatives Denken, humane Antworten und innovative Initiativen unter Wissenschaftler:innen, politischen Entscheidungsträger:innen, Praktiker:innen und der Öffentlichkeit.

Dieses interdisziplinäre Forschungsprojekt zeigt, dass mit "Biodiversität" ein Paradigma entstanden ist, das mit spezifischen Denk- und Sprachstilen transformative Erzählungen gestaltet und Vielfalt in einer prekär gewordenen Welt begründet.

Der von Forschenden am CDE entwickelte Sprachkompass gibt Fachleuten, Entscheidungsträgern ebenso wie Laien ein Instrument in die Hand, ihre sprachlichen Denkmittel in Bezug auf die Themen Landschaft, Mobilität und Ernährung kritisch zu prüfen.

Di Giulio, A., & Defila, R. (2022). Die Bedeutung von Narrativen für Umwelt und Nachhaltigkeit.

Fischer, D., Schäfer, T., & Borner, J. (2018). Narrations of Sustainability: How to Tell the Story of the Socio-Ecological Transformation. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society, 27(3), 334–336. https://www.ingentaconnect.com/content/oekom/gaia/2018/00000027/00000003/art00020

Goepel, M. (2016). The Great Mindshift. How a New Economic Paradigm and Sustainability Transformations go Hand in Hand. Spriger. http://www.springer.com/us/book/9783319437651

Mersmann, F., Wehnert, T., Göpel, M., Arens, S., & Ujj, O. (2014). Shifting Paradigms: Unpacking Transformation for Climate Action. www.wupperinst.org

Wittmayer, J. M., Backhaus, J., Avelino, F., Pel, B., Strasser, T., Kunze, I., & Zuijderwijk, L. (2019). Narratives of change: How social innovation initiatives construct societal transformation. Futures, 112, 102433. https://doi.org/10.1016/j.futures.2019.06.005

Zukunftsstiftung Landwirtschaft & Biovision. (2020). Transformation of our food systems -The making of a paradigm shift.