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«Man muss Menschen mitdenken»

Interview mit Sandro Morsello

Sandro Morsello gibt uns Einblick in den partizipativen Prozess vom Pilotprojekt «Siedlungsnatur» und spricht über die Beiträge der Wissenschaften. Als Verantwortlicher für Bewirtschaftung bei der Heimstätten-Genossenschaft Winterthur (HGW) hat er die Kommunikation und Koordination zwischen Vorstand und Präsidium der Genossenschaft, ihren Mitarbeitenden, Bewohner:innen und dem Projektteam von Siedlungsnatur sichergestellt.

Gespräche in der Siedlung
Bild: HGW

Herr Morsello, warum ist der HGW Biodiversität in Siedlungsräumen wichtig?

Wir haben der Natur und der nächsten Generation gegenüber einer gewisse Verantwortung. Wenn wir bauen, nehmen wir immer ein Stück Natur weg. Indem wir biodiversitätsfördernde Massnahmen ergreifen, können wir etwas zurückgeben. Diese Aspekte sind der HGW, aber auch mir persönlich sehr wichtig. Wir möchten aufzeigen, dass man auch in urbanen Gebieten mit kleinen Massnahmen zu einem grösseren Ganzen – dem Erhalt der Biodiversität – beitragen kann.

Sie gingen für Ihr Pilotprojekt auf die Wissenschaft zu. Was waren Ihre Erwartungen?

Mir war klar, dass wir für diese Veränderungen Fachwissen brauchen, über das wir in der Genossenschaftsverwaltung nicht verfügten. Ich habe angefangen, mich übers Internet über Biodiversität und fördernde Massnahmen zu informieren. Das Internet ist einerseits gut, weil man schnell auf viele Informationen zugreifen kann, aber andererseits wird oft nicht differenziert und das Wissen nicht eingeordnet. Ich bin dann auf das Forum Biodiversität der SCNAT gestossen, habe seine Berichte gelesen – und das hat mir einen seriösen Eindruck gemacht. Die Kontaktaufnahme gestaltete sich dann unkompliziert und das Forum war sehr interessiert, uns bei unserem Vorhaben zu unterstützen und hat uns mit dem Projekt Siedlungsnatur vernetzt.

Welche Beiträge der Wissenschaft waren für Sie besonders hilfreich?

Wir haben in verschiedenen Bereichen wichtige Impulse bekommen. Wir erhielten Zugang zu Fachwissen und gleichzeitig eine Orientierung dazu: Wenn z.B. jemand vom Vogelschutz kommt, will er oder sie natürlich vor allem die Vögel schützen (ungeachtet dessen, ob sie gefärdet sind oder nicht). Aber das ist nicht unser einziger Fokus und es ist schon viel getan, wenn man die gefährdeten Arten schützt. Da hat das Kernteam des Projekts Siedlungsnatur uns geholfen, zu differenzieren.

Das Projektteam hat zudem Schulungen mit unseren Mitarbeitenden durchgeführt. Das war ganz wichtig, denn wenn man Aussenräume biodiverser gestalten will, ändern sich auch Arbeitsabläufe. Eine Blumenwiese muss nicht wie ein Rasen alle zwei Wochen gemäht werden, sondern in einem Rhythmus, der die Lebensweise von Insekten, Blumen und Gräsern respektiert. Das Projektteam hat einen umfassenden Werkzeugkasten für unsere Mitarbeitenden erarbeitet mit vielen Infos und Links zum richtigen Vorgehen.

Ein wichtiger Beitrag aus der Wissenschaft war zudem die Methodik: Wie zieht man ein solches Projekt auf? Wie bindet man die Bewohner:innen ein? Wie erstellt man ein Konzept? Aus meiner Sicht aber am wichtigsten war, dass wir das Projekt durch die Impulse der Wissenschaft ganzheitlichergestaltet haben. Anfänglich wollten wir in erster Linie den Aussenraum aufwerten. Die Gespräche mit den Fachleuten machten uns aber bewusst, dass dies keinen Sinn macht, wenn dies von den Bewohner:innen nicht mitgetragen wird. So haben wir angefangen, die Bedürfnisse der Menschen zu erheben und bei der Aufwertung mitzudenken. Denn wenn sie sich in den Aussenräumen wohlfühlen, dann steigert sich auch ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit.

Gab es auch Beiträge der Wissenschaft, die Sie nicht umgsetzen konnten?

Ich glaube, es ist uns grundsätzlich sehr gut gelungen, die Vorschläge des Projektteams umzusetzen, nicht nur im Pilotprojekt, sondern nun schrittweise auch in anderen von der HGW verwalteten Siedlungen. Es gab nur kleinere Sachen, die wir nicht übernommen haben. Zum Beispiel haben wir das als nicht sehr ästhetisch und biodivers befundene Velohäuschen nicht ersetzt, weil es sehr robust ist und von den Bewohner:innen rege genutzt wird.

Die Herausforderungen stellten sich eher bei unseren Arbeitsprozessen. Bei uns sind Ressourcen und Verhältnismässigkeit grosse Themen. Wir müssen mit dem Tagesgeschäft vorankommen und können unsere Mitarbeitenden nicht während der arbeitsintensiven Sommerphase für einen zweitägigen Workshop abziehen. Da muss man einfach gut und klar mit allen Beteiligten kommunizieren. Aber auch das braucht Ressourcen. Vielleicht haben wir da oder dort im Prozess eine Schlaufe zu viel gemacht, aber vielleicht war dies auch nötig, um gewisse Dinge zu konsolidieren.

Wie haben die Mitarbeitenden und Bewohner:innen auf die Veränderungen reagiert?

Wir haben die Aufwertung der Siedlung gestaffelt vorgenommen. Die Reaktionen darauf waren fast ausschliesslich positiv. Die grössten Veränderungen ergaben sich sicherlich für unsere Mitarbeitenden. Die haben zum Teil jahrzehntelang die Aussenräume auf eine bestimmte Art bewirtschaftet und gepflegt. Die von wissenschaftlicher Seite vorgeschlagenen Massnahmen brachten aber veränderte Arbeitsabläufe und Verhaltensweisen mit sich. Unsere Mitarbeitenden mussten sich nun neues Wissen und neue Praktiken aneignen – das brauchte seine Zeit. Wir haben versucht, diese Veränderungen durch positive Impulse aus Wissenschaft, Praxis und Medien zu erzielen und nicht durch das Aufzeigen von Fehlern. Es war uns auch wichtig, unsere Mitarbeitenden von Anfang an mitzunehmen, denn sie sind zentral für die Umsetzung der Massnahmen, ohne sie geht es nicht.

Die Bewohner:innen sind ebenfalls sehr wichtig, denn sie müssen die Veränderungen akzeptieren und mittragen. Wir legten ein spezielles Augenmerk darauf, die Aufenthaltsqualität beizubehalten oder zu steigern. So haben wir etwa Sitzgelegenheiten aufgefrischt oder zusätzliche zur Verfügung gestellt. Für uns war klar, dass wir genutzte Flächen so lassen wie sie sind; man kann keine Blumenwiesen anlegen, wo gespielt wird. Damit macht man niemandem einen Gefallen.

Bei der Zonierung der Aussenflächen hat uns eine Landschaftsarchitektin unterstützt. In den ungenutzten Bereichen haben wir Blumen und Hecken gepflanzt und Nistplätzen angelegt. Für die Bewohner:innen hat sich hier in erster Linie der Anblick dieser Flächen verändert.Wo vorher Rasen war, gibt es jetzt eine Blumenwiese oder Wildsträucher, die weniger oft gemäht und getrimmt werden. Das weckte bei einigen die Befürchtung, dass es ungepflegt wirken könnte. Da sind wir mit kleinen Massnahmen auf die Leute zugegangen, z.B. indem wir bei einer Blumenwiese einen sogenannten Freundschaftsstreifen mähen, der zu einem Sitzplatz führt. So sehen die Leute, dass die Aussenräume noch immer bewirtschaftet und gepflegt und nicht einfach sich selbst überlassen werden.

Was sind die nächsten Schritte?

Wir können nicht alle Liegenschaften auf einmal aufwerten. Aber gewisse Pflegemassnahmen, die wir in den drei Pilot-Siedlungen etabliert haben, sollen in Zukunft im ganzen Portefeuille der HGW angewendet werden. Gerade im Zusammenhang mit den anstehenden Sanierungen gewisser Siedlungen kann man Synergien mit dem Pilotprojekt nutzen.

Es besteht aber auch in anderen Bereichen Potenzial: Wir prüfen, ob wir das gemähte Gras an Bäuerinnen oder Bauern als Tierfutter weitergeben können. Momentan lassen wir das Gras nach dem Mähen zum Absamen liegen und entsorgen es dann via Kompogas. Dafür bezahlen wir. Wenn wir es der Landwirtschaft weitergeben könnten, wäre beiden gedient.

Was uns in Zukunft stetig begleiten wird, ist auch die genossenschaftsinterne Qualitätssicherung: Wir müssen periodisch auf die Anlagen gehen, um zu schauen, was funktioniert und was nicht. Wenn sich zum Beispiel Temperaturen ändern, müssen wir die Massnahmen gegebenenfalls anpassen oder neue ergreifen. Das ist ein andauernder Prozess. Es kann gut sein, dass wir uns da in Zukunft mit Kursen oder Workshops weitere Unterstützung holen.

Möchten Sie uns sonst noch etwas mitgeben?

Ich denke, man muss selber überzeugt sein von dem, was man macht, um Menschen in Veränderungsprozessen mitzunehmen. Da war sehr hilfreich, dass wir mit der Wissenschaft geschlossen auftreten konnten.

Was mir persönlich an der ganzen Diskussion über Biodiversität und Naturschutz ein wenig fehlt, ist der Fakt, dass wir weniger verbrauchen müssen. Keine Stromerzeugung, keine Heizung, kein Auto ist umweltfreundlich. Auch grüne Technologien verbrauchen Ressourcen. Wir müssen wirklich auch über unseren Konsum nachdenken.


Vielen Dank für diese Einblicke in Ihre Arbeit, Herr Morsello.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier.

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