Es braucht einen Paradigmenwechsel in der Gesundheitswissenschaft
ProClim Flash 79
STANDPUNKT
Text: Nicolas Senn
Die Wahrnehmung der Gesundheit hat sich in den westlichen Gesellschaften seit mehreren Jahrhunderten von der Umwelt entkoppelt. Wir sehen den Menschen ausserhalb der Welt. Wir beobachten die Welt neutral oder nutzen sie zu unserem eigenen Vorteil. Bis vor kurzem haben sich nur wenige Forschende mit den komplexen Wechselwirkungen von Ökosystemen befasst. Eine wichtige Ausnahme ist Alexander von Humboldt, der in einer ersten Skizze zu den «Naturgemälden» 1807 Vegetationsstufen und Pflanzenarten als ein «lebendiges Ganzes»1 beschrieb. Er äusserte auch seine Besorgnis über die schädlichen Auswirkungen der Abholzungsaktivitäten auf die Umwelt und die Menschen in Südamerika.
Die medizinischen Wissenschaften haben mehrheitlich einen «objektivistischen» Weg eingeschlagen: Sie untersuchen die menschliche Gesundheit «um ihrer selbst willen» und berücksichtigen äussere Einflüsse kaum. Im Rahmen von umweltgesundheitlichen Fragen befassen sich Fachleute seit fast einem Jahrhundert hauptsächlich mit den Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Gesundheit.
Die aktuellen Klima- und Umweltprobleme stellen sowohl die öffentliche Gesundheit als auch die Medizin vor neue Herausforderungen. Zum einen müssen mit Klima-, Umwelt- und Gesundheitswissenschaften Disziplinen zusammenarbeiten, die sich das nicht gewohnt sind. Zum andern wollen wir trotz Klimawandel oder Verlust der biologischen Vielfalt Einfluss auf die Gesundheit nehmen, müssen dabei aber unsere Handlungsmöglichkeiten im Gesundheitssektor überdenken. Eine Zusammenarbeit verschiedener Sektoren wie Umwelt, Stadtplanung und Wirtschaft ist wichtiger denn je. Wir können uns nicht damit begnügen, nur die direkten Folgen zu behandeln und uns an neue klimatische Bedingungen mit Hitzewellen oder neuen Krankheiten anzupassen. Auch ein noch so leistungsstarkes Gesundheitssystem ist damit überfordert.
Wir müssen vorausschauend handeln und uns besonders für eine Reduktion des CO2-Ausstosses einsetzen. Schliesslich sei noch auf den kompliziertesten Punkt hingewiesen: Forschende und Gesundheitsfachkräfte müssen Labore, Spitäler und Praxen verlassen und in der Politik mitreden! So können sie bei gesellschaftlichen Entscheidungen ihr Fachwissen einbringen und vollwertige Partnerinnen und Partner werden.
Die vorliegende Ausgabe des ProClim Flash zeigt, dass ein neues Wissenschaftsgebiet entsteht. Es vereint Gesundheit, Klima und die natürliche Umwelt und erforscht die vielfältigen Auswirkungen der Umweltveränderungen auf die Gesellschaft und die körperliche und geistige Gesundheit.
Wir müssen die direkten und indirekten Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheit besser verstehen und geeignete medizinische Massnahmen insbesondere unter dem Gesichtspunkt des gemeinsamen Nutzens entwickeln. Unsere Aufgabe ist es zudem, die Strategien im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu überdenken und unsere Gesundheitssysteme anzupassen. Wir müssen vor allem lernen, mit den Bürgern und politischen Entscheidungsträgerinnen zu sprechen.
Diese Umweltprobleme, allen voran der Klimawandel, gehen uns alle an. Es reicht nicht mehr, die Auswirkungen auf die Gesundheit von aussen zu betrachten. Diese Flash-Ausgabe veranschaulicht den Paradigmenwechsel in der Wissenschaft: Wir müssen uns an kollektiven Entscheidungen für eine bewohnbare Erde beteiligen.
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Prof. Dr. Nicolas Senn
Vizedekan Fakultät Biologie Medizin Universität Lausanne,
Kuratoriumsmitglied ProClim,
Departementsleiter Hausarztmedizin Unisanté Lausanne
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Referenzen
[1] Andrea, W. U. L. F. (2018). L’Invention de la nature. Les aventures d'Alexandre von Humboldt, Lausanne, Les éditions noir sur blanc.