Veränderung mit Herz und Verstand
ProClim Flash 72
Der genossenschaftlich geführte «Tante Emma»-Unverpackt-Laden will im Kleinen Grösseres bewirken. Im Bernischen Münsingen werden möglichst regionale, fair produzierte und plastikfrei verpackte Waren verkauft und neue Einkaufsmöglichkeiten geschaffen.
Text: This Rutishauser, kontextlabor.ch
Zuerst kommt das Herz. Tante Emma hatte ein grosses. Sie, die ein Leben lang der eigenen und der Industriellenfamilie gedient hatte, arbeitete hart in der Nachkriegszeit. Die Menschen um sich herum hat sie nie vergessen und sich grossherzig um sie gekümmert. Sparsam und pflichtbewusst sorgte sich Emma um die Mitmenschen aber auch um die Natur, die sie möglichst nicht verschmutzen und von Abfall befreien wollte. Sauber bedeutete für sie nicht nur rein und geputzt, sondern auch ehrlich und anständig. Einen Wert drückte Emma nicht nur in Franken und Eigentum aus, sondern auch im zwischenmenschlichen Umgang und im sozialen Engagement.
Heute hängt das Bild der gepflegten Emma mit ihrem Grossneffen an der Wand des «Tante Emma»-Unverpackt-Ladens in Münsingen. Der Name passt zur Philosophie der mittlerweile rund 60 Genossenschafterinnen und Genossenschaftern, die mit möglichst unverpackten regionalen, fair und umweltschonend produzierten und gehandelten Produkten eine Alternative zu Grossverteilern und globalen Lebensmittelversorgungsketten anbieten wollen.
Mehr Menschlichkeit, Nähe und Verständnis
Eine dreiköpfige Kerngruppe sorgte sich um Konzept, Finanzierung und Aufbau. Gelebte Nachhaltigkeit ist der Kern. Faire Margen, ehrliche Preise für Waren und Arbeit und die Kraft von Kooperationen sind das Herzstück des Geschäftsmodells. Sauberkeit und Sorgfalt im Umgang mit Natur, Nahrung und Mitmenschen soll die Basis fürs soziale und ökologische Engagement sein, wohlwissend, dass weder das eine noch andere komplett erreicht werden kann.
Tante Emma ist das Gesicht für den Laden, der sich auch für eine Transformation zu mehr Menschlichkeit, Nähe und Verständnis einsetzt. Emma verkörperte in der Nachkriegszeit und der Übergangsphase in ein exponentiell wachsendes, immer globaler vernetztes Wirtschaftssystem wie keine andere Fleiss und Arbeit. Sie lebte aber auch den sorgfältigen Umgang mit Menschen und Natur. Wer, wenn nicht Emma, würde heute Sorge zu Boden und Wasser tragen, alle Verpackungen so lange wie möglich verwenden, Plastik und damit auch Mikroplastik auf ein Minimum reduzieren und «Food» nicht achtlos auf den «Waste» werfen? Vor diesem Hintergrund ist das Konzept des Unverpackt-Ladens eine Anpassung der Begrifflichkeiten an den gegenwärtigen Jargon von nachhaltiger Entwicklung und Postwachstumsökonomie. Am 29. Februar 2020 um 9 Uhr klackte der Schlüssel im Schloss, was symbolisch für die anvisierten Veränderungen und das Öffnen einer Tür zu neuen Handlungsmöglichkeiten steht.
Weltveränderung oder Sisyphusarbeit?
Die Gefühle bei all der Arbeit sind zweigeteilt. In guten Momenten überwiegen die Gedanken, dass «Tante Emma» eine wichtige Möglichkeit zum Handeln schafft, die grosse Welt im Kleinen zu verändern und mit Partnerinnen und Produzenten aus der Gegend, ein altes Wissen, Verständnis und Konsumverhalten neu zu leben und zu kultivieren. Dann stiftet Emma vor allem Sinn. Und doch gibt es auch kritische Stimmen in den eigenen Reihen und aus dem Dorf: Sie reden vom Tropfen auf dem heissen Stein, von Sisyphusarbeit, von Weltverbessererinnen und Weltverbesserern sowie einem netten Projekt. Sie zweifeln an der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit und der Überlebensfähigkeit, sind skeptisch gegenüber Standort und Preisen.
Lokale Nische in einer globalen Agenda
Trotz aller Gedanken und Stimmen will «Tante Emma» neben Bäckerei, Metzgerei, Käserei und Wochenmarkt in der 14 000-Seelengemeinde ihren Platz finden. Sie sieht sich als eine von vielen Initiativen, die auf der lokalen Ebene Alternativen für eine nachhaltiger gestaltete, lebenswertere Zukunft schaffen wollen. Wie solidarische Landwirtschaftsprojekte, Sharing-Plattformen und Repair-Cafés leben auch Unverpackt-Läden von ihrer grossen sozialen Innovationskraft. Im Austausch mit anderen Läden steckt «Tante Emma» in einem «Such-, Lern- und Experimentierprozess», wie der Berner Unternehmer und Nachhaltigkeitsforscher Christoph Bader im Magazin UniPress der Universität Bern schreibt.1 Die Vielfalt von Formaten, Ideen und Initiativen in den «einzelnen Nischen» ist selbst divers und lebendig wie ein biodiverses Ökosystem. In Kooperation sei es möglich, aus der Nische heraus zu kommen und das politisch-ökonomische System zu verändern, so Bader.
Orientierung auf globaler Ebene findet das Unverpackt-Projekt in den 17 Nachhaltigkeitszielen der UNO-Agenda 2030.2 «Verantwortungsvoller Konsum und Produktion» (SDG 12), «Leben an Land» (SDG 15) oder «Partnerschaften zur Erreichung der Ziele» (SDG 17) sind die naheliegendsten. Darüber hinaus entlöhnt «Tante Emma» Frauen wie Männer gleich und fair (SDG 5) und steckt allfällige Gewinne wieder ins Geschäft mit dem Ziel, langfristig einen Beitrag zur lokalen Lebensmittelversorgung leisten zu können (SDG 8). Lebensmittel stehen im Zentrum des «Tante Emma»-Ladens in Münsingen, womit die Förderung von nachhaltiger Landwirtschaft (SDG 2) und ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters (SDG 3) ein wichtiges Thema sind. Der Umgang mit Essen verbindet Generationen. Im Austausch mit der Kundschaft und den Produzierenden können die Mitarbeitenden des Ladens sehr konkret Bildungsangebote schaffen (SDG 4). Ein Austausch mit der Schule im Quartier ist geplant. Übergreifend steht «Tante Emma» dafür, schnell und direkt etwas gegen den Klimawandel und für das SDG 13 zu tun. Kurze Transportwege, eine Abkehr von industriell produzierten Lebensmitteln und eine enge Zusammenarbeit mit experimentierfreudigen Produzierenden ermöglicht beispielsweise, dass Polentamais und Hartweizenpasta oft nur mit Elektroantrieb von Cargo-Bike und S-Bahn vom Hof in den Laden gelangt. Schliesslich schont die Reduktion oder die Wiederverwertung von Verpackungen Böden und Gewässer (SDG 14 und 15).
Der erste globale Nachhaltigkeitsbericht der Vereinten Nationen3 und der Bericht «Transformations to Achieve the Sustainable Development Goals»4 betonen, dass das Zusammenspiel der einzelnen Ziele sowohl Synergien als auch Konflikte hervorbringen kann. Beide Studien heben die Produktion und den Konsum von Lebensmittel als Grundlage allen menschlichen Lebens entweder als zentralen Ansatzpunkt («entry point»3) oder Transformationsweg («transformation pathway»4) hervor. Im Kern führen beide Lösungsansätze zu einer Anpassung von Nahrungsmittelsystemen und Ernährungsgewohnheiten und fördern die Notwendigkeit von transdisziplinären Entwicklungen, die genauso auf globale Wissenszusammenhänge bauen wie auf lokale Erfahrungen und Möglichkeiten.
Genau hier will «Tante Emma – unverpackt einkaufen» im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitwirken und Zukunft gestalten. Auch ausserhalb der Öffnungszeiten soll «Emma» Sinn stiften: Sie vermittelt die Gewissheit und das Gefühl, dass sie Nahrung weitergibt, Arbeit schafft, die Umwelt schützt und allen Beteiligten Energie gibt und Freude schenkt. Wie damals in Emmas Welt und für eine nähere und fernere Zukunft.
Mehr Informationen: www.tante-emma-unverpackt.ch
Referenzen
1Bader C (2020) Die Alternativen sind da, UniPress 179: 25. unibe.ch/unibe/portal/content/e796/e800/e10902/e277579/e928408/files928470/up_179_s_25_bader_ger.pdf
2EDA (2020) Agenda 2030: 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung.
4TWI2050 – The World in 2050 (2018) Transformations to Achieve the Sustainable Development Goals. Report prepared by The World in 2050 initiative. International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA), Laxenburg, Austria.pure.iiasa.ac.at/15347
3United Nations (2019) Global Sustainable Development Report 2019: The Future is Now – Science for Achieving Sustainable Development. Independent Group of Scientists appointed by the Secretary-General, United Nations, New York.
Permalink: proclim.ch/id/ZF6sk