Zeit für Wandel. Mit weniger Arbeit in die Zukunft
ProClim Flash 72
Wir produzieren immer mehr mit immer weniger Arbeit. Statt mehr zu konsumieren, könnten wir als Gesellschaft unsere Arbeitszeit reduzieren. Dies könnte zudem noch positive Auswirkungen auf unser Wohlbefinden und das Klima haben.
Text: Sebastian Neubert, Christoph Bader, Hugo Hanbury und Stephanie Moser, Centre for Development and Environment (CDE), Universität Bern
Im März dieses Jahres fanden viele von uns heraus, dass unsere Berufe nicht systemrelevant sind: In der Schweiz wurden viele Geschäfte und Betriebe geschlossen, die nicht lebensnotwendige Güter produzieren und vertreiben. Menschen mit Berufen ausserhalb dieser essenziellen Güterketten, wie Forschende, mussten plötzlich im Homeoffice arbeiten. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels, im April, dreht sich die Welt noch immer. In den Supermärkten gibt es nach wie vor Lebensmittel, Kinder bekommen nach wie vor Unterricht – teilweise digital, teilweise in kleineren Gruppen in der Schule. Und während viele Menschen über die drohende wirtschaftliche Rezession besorgt sind, sind Kanäle in Venedig plötzlich wieder klar und Studien schätzen, dass die Treibhausgasemissionen dieses Jahr um fast sechs Prozent sinken könnten, so viel wie nie zuvor.
Stetiges Wachstum hinterlässt Spuren
Dass viele unserer Berufe nicht systemrelevant sind, kommt nur teilweise überraschend. Die Verlagerung der Arbeitstätigkeiten von systemrelevanten auf nicht-essenzielle Dienstleistungen und Produkte wird erst jetzt besonders deutlich. Da die Produktivität unserer Wirtschaft ständig zunimmt, ist immer weniger Arbeit erforderlich. Wir produzieren also immer mehr mit immer weniger Arbeit. Ein Trend, der sich mit der zunehmenden Digitalisierung wahrscheinlich noch verschärfen wird. Damit weiterhin alle Menschen Arbeit haben können, müssen wir daher neue Produkte und Dienstleistungen kommerzialisieren und so wirtschaftliches Wachstum generieren. Es muss somit jedes Jahr mehr konsumiert werden. Dass dieser Prozess insbesondere für unsere ökologischen Lebensgrundlagen fatal ist, zeigen Studien seit Jahren: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist eng mit ihren Umweltauswirkungen verbunden.
Auch sozial haben lange Arbeitszeiten negative Folgen. Die Schweiz liegt bezüglich der wöchentlichen Normalarbeitszeit im europäischen Vergleich an der Spitze. In einer 42-Stunden-Woche findet sich kaum Platz für Arbeit, die nicht als Erwerbsarbeit anerkannt und nicht finanziell oder durch soziale Absicherung wertgeschätzt wird: Kinderbetreuung, Hausarbeit, Pflege und soziales Engagement. Jedoch ist diese Arbeit für das Funktionieren unserer Gesellschaft unerlässlich. Sie wird deshalb vor allem von Frauen aufgefangen, die nicht oder in Teilzeit erwerbstätig sind – die Teilzeitbeschäftigungsquote der Schweiz, vor allem bei Frauen, ist europaweit eine der höchsten.
Wir können uns daher fragen, ob unsere derzeitigen Ziele – Vollbeschäftigung bei möglichst 42 Stunden pro Woche und kontinuierliches Wirtschaftswachstum – angemessen sind. Es liegt nahe, eine Verkürzung der Arbeitszeit zu fordern. Diese Forderung entspricht eindeutig der Stimmung der jüngeren Arbeitnehmenden, für die Arbeit und Karriere immer weniger wichtig sind und die sich stattdessen eine sinnvolle Tätigkeit und Zeit für Hobbys, Familie und soziale Kontakte wünschen. Aber auch Forschende erhoffen sich vielfältige Vorteile kürzerer Arbeitszeiten, vor allem für die Umwelt und das Wohlbefinden.
Weniger Arbeiten für unser Wohlbefinden
Die wissenschaftliche Erkenntnis, dass ein steigendes Einkommen nicht unbedingt glücklicher macht, ist heute gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Insbesondere bei höheren Einkommen wirken sich Einkommenserhöhungen nicht mehr positiv aus. Die Arbeitszeit scheint hingegen ein wichtiger Faktor für das Wohlbefinden zu sein: Es hat sich gezeigt, dass insbesondere Arbeitslosigkeit aber auch sehr hohe Arbeitszeiten starke negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden haben – in Form von Stress und gesundheitlichen Folgen. Während diese Menschen also leiden, ist es für das Wohlbefinden der Arbeitnehmenden, die nicht mit einer solchen Situation konfrontiert sind, jedoch weniger entscheidend, ob sie Vollzeit oder Teilzeit arbeiten.
In allen Fällen ist es für unser Wohlbefinden wichtig, wie wir mit der Zeit umgehen, in der wir nicht arbeiten. Insbesondere könnten wir unsere Zeit mit der Pflege von Beziehungen, Sport, mit spirituellen Aktivitäten wie Meditieren oder Beten, Lesen und kreativen Tätigkeiten wie Musizieren oder Malen verbringen. Diese Aktivitäten erzeugen nachgewiesenermassen positive Emotionen, während sie gleichzeitig nur niedrige Treibhausgasemissionen verursachen. Die Zeit, die wir mit Pendeln verbringen, ist hingegen in doppelter Hinsicht suboptimal genutzt: Fast niemand scheint Freude am Pendeln zu haben, und es führt zu einer hohen Klimabelastung.
Weniger Arbeiten für das Klima
Menschen, die weniger arbeiten, belasten das Klima im Durchschnitt weniger. Dies liegt insbesondere daran, dass diesen Menschen weniger Einkommen zur Verfügung steht. Denn überschüssiges Geld wird meist für den Konsum verwendet: Für mehr Wohnraum, was wiederum mehr Heizenergie benötigt. Für mehr Mobilität per Auto oder Flugzeug. Oder für neue technische Geräte, Möbel oder ähnliches – mehr Einkommen erhöht also die Klimabelastung pro Kopf. So hat das Interdisziplinäre Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt (CDE) der Universität Bern in einer Studie mit rund 800 Erwerbstätigen in der Schweiz festgestellt, dass Personen mit kürzeren Arbeitszeiten deutlich geringere Treibhausgasemissionen verursachen. Dies liegt vor allem daran, dass sie aufgrund des geringeren Einkommens weniger Auto fahren und fliegen. Eine kürzere Erwerbsarbeitszeit würde also insbesondere dann zu positiven ökologischen Effekten führen, wenn sie auch mit einem geringeren Einkommen verbunden ist. Dies ist jedoch eine Forderung, die schwerlich mehrheitsfähig scheint.
Kürzere Arbeitszeit – ein Weg für die Schweiz
Wie eine Kompromisslösung für eine zukünftige Arbeitszeit-Politik für die Schweiz aussehen könnte, hat das CDE skizziert: Als mittelfristiges Ziel wird eine Arbeitszeitverkürzung mit abgestuftem Lohnausgleich vorgeschlagen. So könnten Menschen, die momentan 42 Stunden arbeiten, aber weniger als den Medianlohn verdienen, beispielsweise 30 Stunden arbeiten, aber einen vollen Lohnausgleich erhalten. Sie hätten so gleich viel Geld, aber mehr Zeit zur Verfügung. Menschen mit hohem Einkommen, die statistisch gesehen für einen grossen Teil der Umweltbelastungen verantwortlich sind, könnten hingegen höchstens einen Teil ihres Einkommens kompensiert bekommen. Ihnen stünde also weniger Einkommen zur Verfügung, aber ebenfalls mehr Zeit. Erste Schritte, um dieses Ziel zu erreichen, wären eine verlängerte Elternzeit nach skandinavischem Vorbild oder ein Recht auf Freistellung für ehrenamtliche Tätigkeiten. So könnte sich die Schweiz auf die Veränderungen vorbereiten, die in den kommenden Jahren ohnehin anstehen und deren Notwendigkeit in der aktuellen Krise besonders sichtbar ist.
Referenz
Bader C, Hanbury H, Neubert S, Moser S (2020) Weniger ist Mehr – Der dreifache Gewinn einer Reduktion der Erwerbsarbeitszeit. Weniger arbeiten als Transformationsstrategie für eine ökologischere, gerechtere und zufriedenere Gesellschaft — Implikationen für die Schweiz. CDE Working Paper 5. Bern, Schweiz: Centre for Development and Environment (CDE), with Bern Open Publishing (BOP).
Das Projekt «Zeit als neuer Wohlstand», aus dem dieser Artikel entstanden ist, wird gefördert durch die Stiftung Mercator Schweiz.
Mehr Informationen: www.zeitwohlstand.unibe.ch
Permalink: proclim.ch/id/G9HRT