«Weniger Wirtschaft in der Regionalpolitik»
Carte blanche für Romed Aschwanden, Urner Institut «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern
20.12.2021 – Die Neue Regionalpolitik (NRP) zur Förderung von Schweizer Berg- und Randregionen bedarf einer Neuausrichtung auf das Prinzip der Nachhaltigkeit. Denn nicht mehr die Lohnungleichheit ist das Problem, sondern der Klimawandel.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Seit 2008 unterstützen Bund und Kantone die Entwicklungen der Berggebiete, des ländlichen Raums und der Grenzregionen mit der Neuen Regionalpolitik (NRP). Die NRP entfaltet sich jeweils in achtjährigen Programmperioden, die aktuelle Periode läuft Ende 2023 aus. Mit Blick auf die künftige Ausgestaltung des Unterstützungsprogramms plädiere ich am Beispiel der Regionalentwicklung in Berggebieten für einen gesamtheitlicheren Ansatz der NRP.
Die NRP ist heute ein rein wirtschaftspolitisches, an Wachstumszielen orientiertes Instrument. In den 1960er-Jahren, den Anfängen der regionalpolitischen Diskussionen in der Schweiz, und in ihrer Festschreibung im Investitionshilfegesetz 1974, war die Wirtschaftsförderung jedoch nur ein Mittel zum Zweck: des stärkeren Zusammenhalts der Landesteile.
In den Nachkriegsjahrzehnten verschärfte sich die Einkommens- und Investitionsschere zwischen dem urbanen Mittelland und den ländlichen Berggebieten. Abwanderung in die Städte und Überalterung in den Bergtälern waren die Folge. Im Kontext des europäischen Wiederaufbaus war es naheliegend, diese Ungleichheiten mittels Investitionshilfe zu bekämpfen. Aber: Gilt das Primat der Wirtschaft für die heutigen Herausforderungen noch?
Landschaft und Kultur sind die wichtigsten Ressourcen
Exportfähigkeit und Wertschöpfung, sind meiner Meinung nach nicht mehr diejenigen Aspekte, welche den Kern der Förderkriterien der NRP ausmachen sollten. Denn die Situation in den Berggebieten hat sich verändert. Nicht mehr die mangelnde Lohngleichheit ist der kritische Faktor, sondern vor allem die Landschaftsveränderungen durch Bauvorhaben und Klimawandel: Identifikationsstiftende Szenerien gehen verloren, die Gefahr von Naturkatastrophen nimmt zu.
Für die neue Programmperiode ist die NRP deshalb radikal am Prinzip der Nachhaltigkeit auszurichten – nicht nur regulativ im Sinne eines Verbots der Übernutzung von Ressourcen, sondern auch mit Blick auf die Förderung einer gesellschaftlichen Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsform.
Zur Förderung der regionalen Entwicklung wurde in den Berggebieten in der Vergangenheit stark in den Tourismussektor investiert. Es ist allerdings inzwischen ein Gemeinplatz, dass der Tourismus seine «Grenzen des Wachstums» erreicht hat: Landschaft und Kultur sind die wichtigsten Ressourcen der schweizerischen Berggebiete, sie können nicht endlos ausgebeutet werden, sollen die betreffenden Regionen dauerhaft lebenswert und die natürliche Umwelt intakt bleiben.
Fokus auf immaterielle Wertschöpfung
Im Alpenraum ist mannigfaltiges Praxis- und Fachwissen zum Umgang mit Landschaft und Kultur beheimatet. Gerade diese Kompetenzen sind gefragt, sollen die Berggebiete in der Schweiz zukunftsfähig bleiben. Deshalb gilt es, dieses Wissen im Rahmen der künftigen NRP zu bewahren, zu fördern und mit Kompetenzen von ausserhalb zu vernetzen. Dazu bedarf es nichtökonomischer Kriterien, um regionale Entwicklungen zu bewerten: Die intangible Wertschöpfung wie kulturelles Wissen, historisch gewachsene Praxiserfahrung oder grenzüberschreitende Netzwerke muss ein Gewicht erhalten.
Um auf neue Herausforderungen reagieren zu können, müssen sich lokale Traditionen und lokale Kultur weiterentwickeln. Die NRP soll hier Hand bieten. Nur da, wo offene Förderkriterien auch Experimente jenseits etablierter Vorgehens- und Bewertungsweisen erlauben und den Fokus nicht nur auf Wirtschaftlichkeit legen, entsteht Neues. Dann bieten Berggebiete weiterhin eine gute Lebensperspektive, intakte Natur und Identifikation für Einheimische und Gäste.
Die NRP der Zukunft muss also gesamtheitliche Förderkriterien erarbeiten und der Ausbeutung natürlicher und dem Verlust kultureller Ressourcen Einhalt gebieten. Nur so kann sie dem Anspruch einer Kohäsionspolitik gerecht werden, die sich den heutigen Herausforderungen stellt und sich an der Gestaltung einer wünschenswerten Zukunft orientiert. Eine solche Regionalpolitik braucht es für einen lebenswerten und belebten Schweizer Alpenraum – und nicht nur dort.
—
Romed Aschwanden ist Geschäftsführer des Urner Instituts «Kulturen der Alpen» an der Universität Luzern. Er ist Mitglied des Plenums des Forums Landschaft, Alpen, Pärke der SCNAT. Der Historiker und Religionswissenschaftler promovierte zu Umweltbewegungen in den Alpen im Kontext der europäischen Integration.
Carte blanche – Forschende kommentieren
- «In der Raumplanung sind Sofortmassnahmen entscheidend, um das Stabilisierungsziel zu erreichen»
- «Landschaftsbeobachtung Schweiz muss für die Praxis relevanter werden»
- «Der Unterricht in den Naturwissenschaften und die Ausbildung der Lehrpersonen müssen mit der Zeit gehen»
- «Die Wissenschaft sieht politischen Handlungsbedarf bei der Biodiversität»
- «Umbruch im Hochgebirge: Sicherheit muss vorgehen»
- «Künstliche Intelligenz kann das Wirtschaftswachstum auf beispiellose Weise ankurbeln – und damit Umweltkrisen verschärfen.»
- «Wir müssen die subtilen Dynamiken der Macht im Naturschutz besser berücksichtigen»
- «Mit den richtigen Metaphern die Menschen für die Biodiversität sensibilisieren»
- «Aufbau der ökologischen Infrastruktur kann die Trendwende bringen»
- «Ansätze zur Dekolonisierung der Forschungszusammenarbeit zwischen Nord und Süd»
- «Einbezug der Geschlechtervielfalt ist gut für die Wissenschaft»
- «Umdenken statt umbringen: Warum wir das Zusammenleben mit Wildtieren üben sollten»
- «Das Märchen von den Kosten des Klimaschutzes schadet der Schweiz»
- «Für einen wirklich demokratischen Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen»
- «Hohe Lebensqualität geht auch ohne hohen Ressourcenverbrauch»
- Lebensraum für Insekten stärkt Bestäubung und landwirtschaftliche Produktion
- «Um den Klimawandel zu bekämpfen, müssen wir die Qualität des Bodens verbessern, auch in der Schweiz»
- «Ein konstruktiver Kompromiss: der Natur Raum geben und den Energieausbau ermöglichen»
- Erfolg von Frauen in wissenschaftlichen Führungspositionen muss solider werden
- «Diese Technologie kann zu einer nachhaltigen Kernenergieversorgung beitragen»
- «Thorium weckt Hoffnung auf eine gelassenere Klimazukunft»
- «‹Energie sparen› dämpft Energiekrisen, schont das Klima und wird akzeptiert»
- «Der Schweizer Untergrund braucht eine Governance»
- «Mehr Grundlagendaten für eine nachhaltige Wasserkraft»
- «Schädigende Subventionen abbauen schont Umwelt und Finanzen»
- «Ernährungssicherheit erfordert eine umfassende Sichtweise»
- «Risiken von Pflanzenschutzmitteln schnell zu reduzieren ist alternativlos»
- «Mehr unabhängige Forschung zu klimaschonendem Tourismus»
- «Fliessgewässer brauchen klimaresistente Restwassermengen»
- «Technologien für netto null sind einsatzbereit und bezahlbar»
- «Mit Mist und Gülle gegen die Stromlücke»
- «Breite Gentechdebatte mit neuer Gelassenheit starten»
- «Schweiz droht Entwicklung grüner Technologie zu verschlafen»
- «Weniger Wirtschaft in der Regionalpolitik»
- «Das Gymnasium darf sich nicht verzetteln!»
- «Gleicher Ertrag mit halb soviel Pestizid: Das geht!»
- «Die Wirkungsmechanismen der Natur besser verstehen»
- «Geographie muss endlich Schwerpunktfach werden»
- «Konsumierende wollen keine Gentechnik» taugt als Mantra nicht
- «Klimaziele erreichen, ohne den CO₂-Ausstoss gross zu verringern»
- «Beim CO2-Gesetz steht auch die internationale Glaubwürdigkeit auf dem Spiel»
- «Zur Klimakrise sprechen wir weiterhin Klartext!»
- «Das neue CO₂-Gesetz ist besser als behauptet – genügt aber noch nicht»